II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 469

4.9. Anatol
Zyklus
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Klose & Seidel
Bureau für Zeitungsausschnitte
Berlin No. 43, Georgenkirchplatz 211
einen
Zeitung:
2
Ort:
22
Datum:
Kammerspiele.
Schnitzer: „Anatol.
Damit wurde bewiesen, was ich der „Gesellschaft“ von
heute immer wieder sage und was sie voll Entrüstung mit im¬
mer größerer Entschiedenheit zurückweist, nämlich: daß sie eine
grobe Masse ist, der an, um zu wirken, Eindeutigkeiten und
Nuditäten vorführen muß, der aber für leise und zarte An¬
deutung dessen, was nicht nur unsere Seelen schwingen
macht, das Organ fehlt — eine Masse, die nur brüllen, aber
nicht lächeln kann.
Auf Schnitzlers „Anatol, der einer Zeit, die auch
nicht prüde war, schon de Grenze schien, reagiert die moderne
Frau von heute mit Achselzucken und einem überlegenen: „Nu
wenn schon!" — Das Zarte, Ironische, Sentimentale (ach!
wir wollen doch in der Liebe ruhig ein wenig sentimental
bleiben!), kurz, das bißchen Seele, das den Reiz jeder noch so
kurzlebigen „Affäre ausmacht und für den Lebenskünstler aus
einer Episode ein Erlebnis macht — dies Wie, das ja gerade
in der Liebe weit wesentlicher als das Was ist — dafür fehlt
unseren seelenlosen, armseligen Zeitgenossen Sinn und Ver¬
ständnis. Darum jauchzen sie über den „Hühnerhof“ und
noch gröbere Eindeutigkeiten, sofern sie nur aus Paris kom¬
men, und verziehen keine Miene, wenn Anatol mit seinem
Freunde mit Scharm, ein wenig Geist und — was sie ganz
und gar nicht mögen — mit ein wenig Gemüt über die Liebe
plaudert.
Allerdings: ein ganz klein wenig zu feierlich und erden¬
schwer war Anton Edthofer als Anatol, was freilich sei¬
nem Freunde Max, dem Hermann Thimig alles gab, was
Schnitzler in ihn hineingelegt hat, zugute kam. So stand,
was wieder nicht die Absicht Schnitzlers war, nicht Anatol,
sondern Max im Mittelpunkt des Ganzen. Von den Damen
verdienen die als Gabriele erprobte Lina Lossen und die
Annie Mady Christians lobende Erwähnung. Aber auch
die Regie Iwan Schmiths muß genannt werden; sie at¬
mete Wiener Luft, in der sich Stella Arbenina aber schein¬
A. L.
bar weniger heimisch fühlte als an der Seine.
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Klose & Seidel
Bureau für Zeitungsausschnitte
Berlin NO. 43, Georgenkirchplatz 21
Zeitungen Leitun¬
Ort:
Datum:


der den der Westen
leichfalls um ein Menschenalter griff das Deutsche Theater
zurük, indem es dieser Tage einen ganzen Abend des Kammerspiel¬
hauses mit den im Jahre 1890 entstandenen Anatol-Skizzen Arthur
Schnitzlers führe. Auch über den mit dem feinsten Witze gewürzten
Dialogen der Skizzen schwebt eine dichterische Wehmut, die die Heiterkeit
zuletzt in Nachdenklichkeit auflöst und schwermütig in den Gemütern nach¬
klingt. Ob das Publikum, das sich heute den teueren Genuß eines Kammer¬
spielabends verschaffen kann, die Anatolscherze in diesem Sinne faßt und nach¬
em indet, ist freilich eine offene Frage. Jedenfalls hat die Spielleitung
Iwan Smiths viel dafür getan, die Feinheit des Wortes, die Zartheit der
Pointierung zum Grundion der Darstellung zu machen. Anton Edthofer,
sehr echt und eigenartig in der Charakteristik jugendlicher Genießer, die mit
knabenhafter Ahnungslosigkeit durch das Leben taumeln, ging vielleicht ein
wenig zu weit im Andeutungsstil; der Umriß seiner Anatolgestalt war ganz
köstlich, aber der Ton gar zu leise. Diese Stimmlosigkeit grenzte schon an
vorzeitige greifenhafte Entkräftung, und diese Art von Müdigkeit liegt gewiß
nicht im Wesen des von den Weibern verzogenen und betrogenen dummen
Jungen. Die nüchterne Trockenheit des Anatolfreundes, der ohne Gemüts¬
erregung sich jeden guten Bissen schmecken läßt, war durch Hermann Thi¬
mig mit starkem treffenden Humor vertreten. Die Weiber, an denen
Anatol sich betätigt, standen schauspielerisch nicht auf gleicher Höhe. Feinster
frauenhafter Reiz lag in der Gestalt der einzigen „Dame" in den Dialogen,
die durch Lina Lossen entzückend verkörpert und fein beseelt war. Die
kleinen süßen Mädchen waren sehr ungleich. Margarethe Christians,
hübsch und munter, reicht im Humor der „Abschiedssoupers" nicht entfernt an
die groteske Drolligkeit der Niese oder an die heroische Komik der Sandrock
heran. Im ganzen kamen die geistsprühenden Dialoge zur Wirkung und
erwiesen sich des Kammerspielhauses weit würdiger, als die Zucht oder Un¬
zucht des „Hühnerhofes.
Prof. A. Klage