II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 472

4.9. Anatol
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Zyklus
Aufklärung angelegen sein lassen und sie alle miteinander zu ihrer aus¬
giebigen Befriedigung auf die natürlichste Weise von der Welt er¬
reichen. Im Unterschied von den Saloncauseuren der übrigen euro¬
päischen Länder sagt solch ein Spanier, umgürtet mit dem ganzen
Stolz seiner pittoresken Heimat, beispielsweise: „Frauen sind wie die
Musik" — und da es mancherlei Musiken gibt und Sache des Kritikers
ist, sie genau zu bestimmen, so will mir vorkommen, als ob Frau
Lili Marberg derjenigen gliche, die auf einem verstimmten Spinett des
Burgtheaters gemacht wurde, als der Vater die Mutter nahm.
Während Anatol, auch ein historisches Stück Wien, sich allmäh¬
lich so verjüngt hat, daß er, dieser Dämon der neunziger Jahre, heute
auffallend Herzblättchens Zeitvertreib ähnelt. Er hat seine Sieges¬
trophen in Briefumschlägen gesammelt, öffnet einen, findet darin den
Staub einer Blume und spricht bekommen: „Daß von so viel Süßig¬
keit nichts andres übrig bleibt, ist traurig.“ Ist traurig, aber das Los
des Schönen auf einer Erde, die sich, mitsamt dem Himmel über ihr,
für Schnitzlers Lebemännchen nur um einen Pol dreht; die Liebe.
Immer und immer wieder Anatol: da wird nicht einmal angedeutet,
daß noch der idyllischste Frieden sonst allerhand Nöte, Ideen, Ziele
und Strömungen gehabt hat. Das ist eine Welt, das heißt eine Welt
An sich ist dieses Weltehen mit maestria gezeichnet. Wir spa¬
zieren behaglich um die Liebe im allgemeinen, sortieren vielerlei Arten
von Liebe, erfahren unüberrascht, daß weder Männer noch Frauen
monogam sind, und wünschten für eine dramatische Steigerung nur,
daß Anatol, dem jede Frau, mehr oder minder schnell, langweilig wird,
genügend Ressourcen in sich hätte, um in jedem Fall uns nicht am
schnellsten langweilig zu werden. Diese Gefahr hat Schnitzler, tief, allzu
tief in sein Weltchen, sein Lustwelchen eingesponnen, ganz und gar
übersehen: daß sein Anatoll, im Geiste schwach, im Herzen arm, auch
als purer Liebhaber, als Viveur im oberflächlichsten Sinne kein ge¬
nügend reizvolles, launenhaftes, schillerndes Exemplar seiner Gattung
ist. Nach zwanzig Minuten kennt man ihn auswendig. Dann beginnt
er uns zu verdrießen. Schließlich droht er unerträglich zu werden.
Aber da, zum Glück, macht er Hochzeit. Mit keiner der fünf Damen,
denen in die Kammerspiele die Kleider aus der Elsasser Straße 53,
die Hüte vom Kurfürstendamm 232 geliefert worden sind. Mit einer
hoffentlich, bei der dieser melancholische, feine, leise, appetitliche An¬
ton Edthöfer wohlgeborgen ist und sein quadratischer, goldbebrillter,
lachfreudiger und hungriger Spezi Hermann Thimig immer ein Gul¬
lasch mit Nockerln und einen Kaiserschmarrn findet. Und wenn sie
nicht gestorben sind, so leben sie heute noch. Heute, wo das Theater
keine Gegenwart hat, dieweil erst seine gesamte Vergangenheit an
uns vorbeidefilieren muß, wo es ist, als ob die Gesellschaft für Theater¬
geschichte unsre Bühnenhäuser gepachtet hätte. Ein krankhafter Zu¬
stand. Denn das Theater soll ja durch Widerspiegelung des amenden
Tages der Gesellschaft ihre Geschichte formen helfen.
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