II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 473

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4.9. Anatol - Zyk
des damals ach so jungen Dichters, der uns leider die
schönen Versprechungen seines Anfangs nicht gehalten
hat. Käthe Dorsch, die Silberpoliererin, die den jungen,
in die Atmosphäre der Kultur sich zurücksehnenden
Künstler nicht halten kann, die ein Kind von ihm er¬
wartet und es ihm verschweigt, weil sie ihm den Ent¬
Klose & Seidel
schluß nicht erschweren darf, gab eine rührend innige
Bureau für Zeitungsausschnitte
Gestalt. Verdiente die Wiederaufnahme von Hirschfeld¬
Berlin NO. 43, Georgenkirchplatz 21
„Müttern“ in den Spielplan Dank, so soll nicht An¬
stand genommen werden, zu sagen, daß man uns mit
dem „Anatole nun gefälligst für immer verschonen
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möge. Also das gab es einmal, daß man dies Getue und
Zeitung Wiener Tag
Gehabe mit der widerlichen Nachsteigerei eines drohnen
Ort:
haften Lebejünglings als Kunst genoß! Was ist das für
eine nichtsnutzige Verschlamptheit im Fühlen und
Datum:
14. FEB. 1922
Handeln! Wer ist dieser Herr Anatol? Hat er was
gelernt? Rechtfertigt er seinen Anspruch auf eine ge¬
ordnete und eingeordnete Existenz durch irgendeinen
Hallionen Those
bürgerlichen Beruf oder, da er doch wohl das glückliche
Unglück der Unabhängigkeit hat, durch anständige
Beim Suchen nach wirkungsvollen Stücken kam
Lebensführung? Den Menschen, deren soziale Stufe
das Kleine Schauspielhaus auf Georg Hirschfeld¬
unterhalb dieses Bereiches eines parfümierten Sexual¬
„Mutter", kamen die Kammerspiele auf Schnitzler¬
lebens liegt, muß das Blut wallen, wenn sie sehen und
„Anatol. Es war ein freundliches Wiedersehen mit der
hören, wie hier ein geschminktes Parasitentum breit
„Müttern", es war mit „Anatol“ ein Abend des Ver
aufgemacht wird und gar noch verlangt, als eine Blüt¬
drusses. Das Stück von Hirschfeld, das etwas über
des ästhetischen Lebensgenusses gewürdigt zu werden.
fünfundzwanzig Jahre alt ist, hat schon jetzt historische Es ist die Tragik des Dramatikers Schnitzler, daß sein
Geltung. Schon wir Heutigen sehen es nicht mit der
großes Talent aus den Nöten der Sexualität kaum je
Gewißheit an, einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit vor herauskommt. Im „Reigen" findet er wenigstens den
uns zu haben, sondern wir erleben den aparten Rei¬
Weg der Ueberwindung durch Leiden und Widerwillen,
einer vergänglichen Betrachtung, die aber einmal eine im „Anatol" sucht er diesen Weg nicht einmal.
starke zeitbedingte Realität war. Das will sagen: so als
Anatol, der sich in der Nacht zum Hochzeitsmorgen ein
sahen unsre naturalistischen Dichter vor einem Viertel¬
Frauenzimmer nach Hause geschleift hat und den sein
jahrhundert Welt und Menschen an. Es gibt keine
Freund Max von diesem vermutlich auch äußerst süßen
Bürgschaft dafür, daß wir sie zur Stunde richtiger an¬
Mädel erst frei machen muß, damit er zur Trauung
sehen, wenn sie uns anders erscheinen. Nur eben ander¬
nicht zu spät komme, das ist einfach eine Ferkelei. Das
sehen wir sie. Das Stück ist aus der Periode der Vorder
liebe Publikum aber lacht und freut sich. Man kann es
haus- und Hinterhausperspektiven. Hier Bürgertum
verstehen, wenn geistige Menschen das Theater
diesmal kleinbürgerlich nuanciert, hier die proletarische
nen.
Welt. Das gibt Kontraste und Ausgleichungen, die
Max Leiter.
Wirkung kommt aus der warmherzigen Menschlichkeit
Klose & Seidel
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Bureau für Zeitungsausschnitte
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Berlin N. 43, Georgenkirchplatz
Berlin No. 13. Georgenthal /
.
Zeitung:
Zeitung: Berliner Tageblatt
Ort:
Ort:
16
Datum:
Datum:
FEB. 1922
In den Kammerspielen sah man gestern abend
de Kammerale de Brutschen Theol. in Schnit=
— in Schnitzlers „Anatol" — einen neuen
lers „Anatol gab Louis Rainer, den Max. Soweit diese
Vertreter des Max: Herrn Luis Rainer. Dieser
Aufgabe als liebenswürdige Resonanz der Titelrolle das Entfalten
Max ist eigentlich keine ganz angenehme Aufgabe
ist Folie für Anatol, der Funke, an dem dessen
eines Könnens gestattet und einen vorläufigen Blick darüber erlaubt,
Witz sich entzündet, der personifizierte gute Kerl, die
zeigte Herr Rainer nur angenehme Talente: un eschminkter Dialekt
Fleisch gewordene Freundestreue. Thimig hob ihn
und schlakelignettes Benehmen kamen aus einem Wiener Herzen
zu einem selbständigeren Leben und zu einer von Haus
die melancholische Ueberlegenheit verriet schauspielerische Intelligen,
aus ihm nicht beschiedenen Eigenart empor, und
und eine Atmosphäre von Güte die er in das tändelnd verwehend
Herr Rainer strebte (auf anderem Weg) dem glei¬
Spiel trug, bezeichnete die Brücke, die vielleicht zu seiner weiteren
Begabung führt.
chen Ziel zu. Er war minder knurrig, seine spöt¬
tische Ueberlegenheit war in Wohlwollen einge¬
wickelt; er war ein bißchen ruhiger Beobachter, der
die Dinge laufen läßt und neugierig amüsiert zu¬
sieht, wo sie enden werden, und er war freundlich
Teilnehmender, der sich mit Philosophie gegen
Ueberraschungen wappnet. Seine Bühnensicherheit
seine Beherrschtheit und sein warmes, klangreiches

Organ machten ihn sympathisch.