II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 475

4.9. Anatol - Zyklus

26


GROSSTES DEUTSCHEN ZEITUNGSAUSSCHNITT-BRO
BERLIN SO 16, RUNGESTRASSE 22-24
Hamburger Fremdenblatt

Ausschnitt aus der Nummer vom
20 MAI
Pester Retten, Vater nur durch
aus Frankfurt: Schnitzlers 60. Geburtstag
feierte man im Neuen Theute mit ener Neuein¬
studierung seines Jugendwerkes Anatol, dem wie¬
nerichsten, wenn auch nicht bedeutendsten seiner Stücke.
Am gleichen Abend gab man im Schauspiel¬
hause die Erstaufführung von Sternheim
„Manon Lescant. Da Sternheim selbst in diesem
Schauspiel die Durchdringung der gegebenen Anekdote
mit seinem derlichen Apparat nicht völlig geglückt ist,
so ist auch im Schauspielerischen mit großen Schwierig¬
keiten zu kämpfen. Die Tendenz, den wahren freien
Willen des aus Adel und Volk sich zusammensetzenden
Liebesbundes auszuspielen gegen den verhaßten, beide
einschränkenden und bindenden Bürger, wird immer
wieder verdeckt und teilweise gefährdet durch zu ge¬
naues Innhalten der Begebenheiten der Romanvor¬
lage, die auf ein so ganz anderes Ziel gerichtet war.
Direktor Weichert fand als Regisseur für diesen
Zwiespalt in den meisten Szenen ein ausgezeichnet ver¬
mittelndes Bühnenbild. Ein silhouettierender schwarzer
Rahmen im Louis seize Stil, ein meist goldsarbener
Hintergrund preßten die Bühne mit nur wenigen halb¬
wegs im Zeitgeschmack gebildeten Requisiten schmal zu¬
kommen, so daß im flächigen Spiel die möglichste Klar¬
heit und Betonung des gedanklichen Wortes erreicht
werden konnte. Bis auf den wieder einmal unerträg¬
lich manirierten Herrn Feldhammer als Chevalier
waren die schauspielerischen Leistungen sehr gut, vor
allem ein dickende und schöne Gestalt Fritta Brod
die Manon.
5. J.
box 9/3

Kasserger allgemeine Zeilen,
Königsberg Pr.
MAI
„Anatol" im Neuen Schauspielhaus.
Während unsere Kammerspielbühne, Sonnabend und Sonntag abend,
in der Stadthalle die Wunder= und Sagenwelt der „St. Jakobsfahrt auf¬
baute, räumte sie gleichzeitig ihr eigenes Haus dem Mikrokosmos der
Schnitzlerschen „Anatole-Szenen ein. Oskar Walleck, der als Titel¬
held und Spiellen die Seele des Ganzen war, hatte von den sieben Bildern
die vier beliebtesten und wirksamsten ausgewählt: „Frage an das
Schicksal, „Weihnachtseinkäufe", „Abschiedssouper,
„Anatols Hochzeitsmorgen". Wir wissen von früher, daß Walleck
nicht an sich, aber relativ, nämlich von seinen Kollegen, der denkbar beste
Anatol ist; daß er zwar nicht in der Rolle lebt, aber sie wenigstens geschickt
„darstellt; daß in seiner Auffassung des leichtsinnigen Melancholikers zwar
die Melancholie, die schwermütige Weichheit, der nachdenkliche Zug zu kurz
kommt, dafür aber um so stärker der geistreiche Wiener Causeur und elegante
lüßiggänger betont wird. So wandelte dieser Faustulus mit bedächtiger
Schnelle seinen genußreichen Leidensweg durch die Stationen philosophischer
Liebelei, begleitet von seinem treuen Famulus und Mephistopheles Max
(Friedrich), der mit seinen trockenen Zwischenbemerkungen, ernüchternd
cynischen Ratschlägen und witzigen Apercus sozusagen der Bonmotor des
Dialogs war. Die wechselnden Gegenstände seiner Neigung fanden durchweg
sehr anziehende Verkörperung. Cora, das Opfer der Hypnose, war Grete
Holtz-Walleck: wie immer lieb und schlicht, das richtige süße Mädel
Gabriele, unter Nutten die einzige Dame, gab Ruth Baldor etwas unver¬
sönlich und ungefestigt, aber mit angenehm diskreter Andeutung der heimlichen
Eifersucht gegen die Vorstadt=Konkurrenz. Annie, die Partnerin im „Ab¬
schiedssouper, stattete Mizzi Mößi=Friedrich höchst ergötzlich mit einem
charakteristischen „frisierten Mundwerk“ und der alleweil durchbrechenden
Ordinärheit aus, die in ansteckendem Gelächter explodiert. Als Heldin des
letzten nächtlichen Abenteuers endlich bildete Helene Sauer schon durch
die interessanten Enthüllungen ihrer Toilette eine kleine Sensation für sich.
Sie blieb dem furiosen Temperament der feurigen Ungarn nichts schuldig und
ließ bei aller komischen Wirkung eine leise Tragik der Verlassenheit durch¬
schimmern, die besänftigendes Oel auf die Heiterkeitswellen goß. Diese stark
ins Schwankhafte entgleisende Coda des ganzen Reigens zündete natürlich
wieder am meisten, aber auch die anderen Stückchen hatten den üblichen Er¬
folg, um den sich noch Arthur Petraschk, ein „Ober“ und Diener mit
diskret wissenden Lakaienlächeln, verdient machte. Auch die geschmackvolle
szenische Ausstattung — von der uns nur die „schwarze Weihnacht nicht
recht gefiel — trug dazu bei.
Trotz allem Erfolg; man hatte das Gefühl, daß diese etappenweise
Komödie der Worte und Gefühle, diese Welt spielerisch=sorgloser Nichtstuer
unserer ernsten, notbedrängten Zeit etwas fremd geworden ist. Wie wär's,
wenn man den Einaktern das gereimte Watteaubildchen von „Loris" (Hof¬
mannsthal), das uns durch historische Parallelen so hübsch mit jener Sphäre
vertraut macht, vorausschickte? Natürlich müßte diesen reizvollen Prolog kein
befrackter Rezitator, sondern ein Roccocco, oder Anatol-Mensch in legerer
Haltung, womöglich in liegender Stellung sprechen — vorausgesetzt, daß sich
der Moissi findet, der ihn sprechen kann. Merkwürdig, daß unsere sonst so
einfallreichen Regisseure auf diesen Gedanken noch nie gekommen sind. H.W.