II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 477

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4.9. Anatol
Zyklus
ADOLF SCHUSTERMANN
ZEITUNGSNACHRICHTEN-BUREAU
BERLIN SO 16, RUNGESTR. 22-24.
zeitung. Frankfurter Nachrichten
Adresse:
Frankfurt a. M.
A
Datum:
Frankfurter Kammerspiele. Den bevorstehenden 50. Verlag
Arthur Schnitzlers (15. Mai 1922) ehrte die kleine Zeilbühne durch
seine Wiege des Anatolzyklus, die sich von der im vorigen Jahr¬
am Neuenter erfolgten durch eine in den Hauptrollen ver¬
änderte Besetzung sowie durch die diesem Theater eigentümlichen
dekorativen Mängel der Inszenierung unterschied. Diese Dialoge voll
Schlendrian, Anmut und Empfindsamkeit sind immer dankbare¬
Repertoire. Denn sie sind gegossen in eine geistige Form, die neben
dem duftigen Inhalt und der tänzerischen Grazie ihrer Stilisierung
jenes Trio besitzt, das die Garantie der Wirkung ist: Witz, Fronie
und Erotik. Es ist durchaus zu begrüßen, wenn man mit einem
Schauspieler wie Hennings, da er hochbegabt ist, Experimente
macht, die seiner Entwicklung nur forderlich sein können. Er bringt
vieles mit für die Rolle des Anatol. Ein lockeres Temperament, eine
besinnliche Sensibilität, Hang zur Melancholie, Neigung zum Träu¬
merischen und jene gewisse Atmosphäre des unwiderstehlichen Mannes,
dem die Frauen zufliegen wie die Bienen. Er erledigte seine Rolle
mit einer gewandten und lässig sich gebenden Intelligenz, ohne sie
jedoch bis in die letzten Möglichkeiten auszuschöpfen. Was ihm fehlt,
und das ist bei seiner Jugend natürlich, ist jener leichte und letzte
Hauch eines überreifen Lebens, das schon halb in den Schatten der
Dekadenze sich bewegt, und der zur vollendeten Charakterisierung
dieses Wiener Elegants unumgänglich ist. Ihm zur Seite stand duld¬
sam, heiter und gemütlich sein Freund Max des Herrn Sellnick
geschickt und sicher gespielt mit beständigem Gelächter. Marion
Heiden zeigte während des Abschiedssoupers eine übertriebene
Lustigkeit. Grete Klee füllte ihre kleine Episode hinreichend aus¬
Alice Rohde gab der Gabriele mit ihrem warmen und dunkel¬
schönen Organ die verhaltenen und wehmütigen Töne und stattete die
zähverliebte Ilona mit vollem Temperament, Eigensinn und drasti¬
schen Zärtlichkeiten aus. Der Beifall war verdientermaßen stark und
kandi¬
ADOLF SCHUSTERMANN
ZEITUNGSNACHRICHTEN-BUREAU
BARLIN SO 16, RUNGESTR. 22-24.
zeitung: Volksstimme
Adresse: Frankfurt
MAT
Datum:
Kleines Feuilleton.
Frankfurter Kammerspiele.
Der „Anator von Schnitzler ist vom Neuen Theater nach den
Kammerspielen umgezogen, um hier den 60. Geburtstag des Dich¬
ters zu feiern.“ Arthur Lengbachs echtestes Wienertum vermißte
man. Hennings, der den Anatol gab, spielt ihn melancholischer
als Lengbach, Besinnlicher, weniger sinnlich. Ein ganz anderer
Anatol als im Neuen Theater stand vor uns, ohne daß seine Zeich¬
nung verzeichnet gewesen wäre. Er verlieh ihm mehr als Lengbach,
der ihn als tändelnden Lebemann mit viel Gefühl auffaßte, das
Tragische des Mannes, der den Begriff Weib nie zu Ende studiert
und im Streit von Geschlecht zu Geschlecht nie zur Ruhe kommt.
Selbst die Ehe bildet für einen Anatol keinen Abschluß. Das letzte
der fünf Bilder, das den Morgen vor Anatols Hochzeit schildert,
läßt in eine nicht einseitige Zukunft blicken. Beide Auffassungen
haben ihre Berechtigung. Durch die angestellten vergleichenden
Betrachtungen gewann der Abend an Interesse. Die Darstellung
des Max durch Kurt Sellnick war gut, aber im Stil nicht ein¬
heitlich. Er sprach meist hochdeutsch und streute ab und zu in
schlechtem Dialekt ein paar Wiener Brocken hinein, die dem Ohr
wehe taten. Otto Wallburg, der die Rolle im Neuen Theater
spielte, sprach den Max in weiser Selbsterkenntnis nur in Schrift¬
deutsch, was der Einheit des Spiels nichts schadete. Von den ver¬
schiedenen, vom Dichter linsenscharf geschauten Frauentypen über¬
ragte Marion Heiden besonders in der Szene des „Abschieds¬
souper" durch eine glänzend lärmende Realistik, die sich sogar auf
die Requisiten übertrug. Von feinster Diskretion war Alice
Rohde als Gabriele und voll randalierender Eifersucht als
Ilona. Wären noch Grete Klee als Bianca und die schönen
Bühnenbilder Loe Dahls zu erwähnen. Der Beifall war nach jeder
M. E.-
Szene stark.