II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 504

4.9. Anatol-
s
box 9/3
Prager Tagblatt, Prag
Abendblatt
„Anatol. Schnitzlers, Frühwerk — fünf von
den sieben Einaktern des ein. Von der
„Frage an das Schicksal" führte der Weg über die
„Weihnachtseinkäufe zu dem meist und erst tags
vorher gegebenen „Abschiedssouper, dann zur
„Episode und von da zu „Anatols Hochzeits¬
morgen", dem Schlußkapitel dieses Buchs der Liebe,
dieser Junggesellenherrlichkeit, die mit Uebersättigung
kokettiert und immer neu aufbrennt, wenn sie Beute
wittert. Der Anatol-Zyklus zählt zu jenen Bühnen¬
dichtungen, die kaum altern. Er ist vielleicht in den
Farben ein wenig verblaßt, aber den Reiz seiner
Liebenswürdigkeit, die leichte Anmut der verfeinerten
Genußfreude hat er sich bewahrt. Er ist erinnerungs¬
In vieren von
reich und sehnsüchtig geworden
den fünf Stücken sah man mit Vergnügen Haus
Lackner in der Rolle des Mar. Der Mar ist
eigentlich keine Gasterrolle. Sie bietet dem Gast
wie auch dem Publikum zu wenig, da Mar nur im
Schatten Anatols wandelt. Es läßt sich also von
Herrn Lackner nur sagen, daß er den realistischen
Spötter, der alles unter den Gesichtswinkel der
Vernunft zwängt, mit der ihm eigenen persönlichen
Liebenswürdigkeit und künstlerischen Sicherheit
zeichnete, die beide ihrer Wirkung immer sicher sind.
Anatol selbst bedeutet typisches Wienertum. Er ist
aus Wiener Temperament, aus Wiener Gemütlich¬
keit und aus wienerischer Leichtlebigkeit geboren.
Was Wunder, wenn Direktor Kramer, der auf
der Wiener Ringstraße, in der Prater= und Wiener
Redoutenwelt ausgewachsen ist, den Anatol=Stil
mühelos und selbstverständlich meistert. Die Cora
vertrat Nelly Bonda, die Bianca Liese Mittler,
In „Weihnachtseinkäufe gab Frl. Thetter die
Gabriele mit kokettem Geist und einnehmendster An¬
mut. Die lustige Szene „Abschiedssouper erfüllte
wieder Frau Medelsky mit einem prasselnden
Raketenfeuer elementarer Laune und die rabiale
Ilona im „Hochzeitsmorgen", gab Frau Brede
mit prächtigem Humor und drolligster Entschlossen¬
heit. Direktor Kramers delikate Regie sorgte
ein wohltuendes Gleichgewicht der Stimmung. Das
volle Haus war für den Abend sehr dankbar,
Kammersonen zur Wache.
She
Anatol. Je älter dieser Einakterzyklus.
desto schwächer wird auch der Reiz, den diese für das dekadente Wie¬
der Literatentum um die Jahrhundertwende herum so charakteri¬
sische Art von Bühnenkunft zur Zeit, als sie noch neu und mehr
in Mode war, auf den ausübt, der sie seither noch oft gesehen hat.
Da enthüllt sich dann immer mehr die Oberflächlichkeit, die eigent¬
lich nur auf Frivolitäten und Cynismen aufgebaute Wirkung in
Dialog und Handlung dieser Stücke, deren Inhalt so hohl und
locker ist wie die hier geschilderte Weltanschauung der vorkriegszeit¬
lichen Wiener Lebewelt. Das zeigt sich umso deutlicher, je scheiter
die Einakter gespielt werden, d. h., je weniger die Darstellung der¬
auf achtet, wenigstens den einen, für Schnitzler typischen und auch
— die diskrete Eleganz der
heute noch anzuerkennenden Vorzug
äußeren Form - nicht zu verderben. Die Aufführung in den Kam¬
merspielen am Samstag hat in dieser Hinsicht leider versagt; sie
stimmte den seinen leonischen Ton fast auf das Schwankmäßige her¬
ab, und tat damit dem Autor und den Stücken Unrecht, wenn auch
das Publikum nicht viel davon zu merken schien. Der Anatol des
Herrn Duniecki war unserem Empfinden nach zu dentlich is
Lächerliche gezogen. Sehr gut war in allen drei Akten Herr Ri¬
ter, der als May die vom Autor gezogene Linie nie verließ. Von
den Damen traf den rechten Ton am besten Fräulein Bertram
als Ilona, Fräulein Monee hatte als Cora weiter keine be¬
sondere Aufgabe. Frau Agel ließ sich als Annie im „Abschieds¬
souper manchmal allzusehr gehen. — Das Repertoire der Kammer¬
spiele ist in letzter Zeit nicht immer mustergültig. Wir haben
uns den Betrieb der neuen Bühne wesentlich anders vorgestellt.
Um „Die goldene Eva“, „Die Schiffbrüchigen" u. dgl. zu geben,
genügt auch das Stadtthater. Die Leitung hat die Eröffnung der
Kammerspiele dem literarisch und künstlerisch interessierten Publi¬
te so lang gemacht, daß man mit der setzt geborenen
kum die Zürich zufrieden sein kann.