II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 505

box 9/3
4.9. Anatol-
Zyklus

„Widerhall
Seite 7.
Nr. 31.
wir wollen viele sein. Uns ist niemand fremd, der guten
Die große Pflicht, die auf unseren Schultern lastet, ist: die
Willens ist, gleich uns. Allen strecken wir die Hände ent¬
Wahrheit zu suchen und sie mit ganzer Kraft zu verteidi¬
gegen. Wir wollen eine Menge sein, die niemand mehr
gen als den einzigen Halt, der uns bleibt, als den einzi¬
zählen kann. Wir wollen die ganze Menschheit sein“.
gen wirklichen Besitz, als das neue Heil der Menschheit.
Barbusse schließt mit den Worten: „Und wenn nun also
Vorbei die Zeit, da alle schöpferischen Geister jenseits der
die Zeit vorüber ist, da die Kunst sich ihrer heiligen Selbst¬
Wirklichkeit lebten, eingeschlossen in ihre ungesunde
sucht rühmen durfte, ihrer Einsamkeit und Abgeschlossen¬
Gleichgültigkeit gegen den lebendigen Tag. Die Wahr¬
heit, wenn die verblendete Gleichgültigkeit ein für alle¬
heit ruft jeden von uns, als ob sie ihn beim Namen riefe.
mal vorüber ist, die Furchtbares verschuldete, indem sie es
Niemand hat mehr das Recht, sich abzuschließen. Alle ge¬
geschehen ließ, wenn wir nun wirklich an einem neuen
hören zu allen
Kreuzweg angelangt sind, oh, so laßt uns den Geist wie¬
Und weiter fährt Barbusse fort: „Wir sind die Partei
der in die Herrschaft einsetzen! Allzulange war er ver¬
der Wahrheit. Das Erkennen der Dinge, das Durch¬
stoßen. Daß sie wahrhaft neu werde, diese Zeit — das
schauen der Zusammenhänge erst wird die Menschen er¬
eben müssen wir uns alle erst verdienen".
lösen. Und welches ist unser Weg? Wir sind wenige,
Kunst=Widerhall

dings gerade in der deutschen Literatur das Judentum
Offener Brief an Dr. R. St.
eine ungewöhnlich starke Vertretung hat und eine — ich
Die Kritik Dr. R. St's im „Tiroler Anzeiger
möchte fast sagen — praevalente Stellung einnimmt.
über die Aufführung der „Anatol-Einakter Artur
Mag man darüber urteilen wie man will, eines liegt auf
Schnitzlers in den Kammerspielen bildet den An¬
der Hand: man müßte, wenn man schon dazu Stellung
laß zu dieser Zuschrift unseres geschätzten Mitarbeiters.
nimmt, vorerst nach den Ursachen dieser Erscheinung for¬
Wir geben ihr Raum, obwohl wir uns vollkommen
schen, anstatt pauschaliter zu schimpfen. Denn mit dem
bewußt sind, daß vielleicht gerade die Figur des Ana¬
Schimpfen allein ist noch nie etwas geändert worden, viel¬
tol eine Schnitzlerische Schöpfung ist, die man nur aus
mehr ist es einem jeden Klugen klar, daß der Schimpfende
der Kenntnis des Wien um 1890 und der seelischen
sich in allen Fällen in der Lage des ohnmächtig Zornigen
Beschaffenheit seiner jungen Menschen von damals
befindet, weil er sonst anstatt zu schimpfen handelte. So¬
verstehen und nachfühlen kann, die absprechende Be¬
Beurteilung eines Tirolers im Nicht-Begreifen=Kön¬
mit liegt in solchen Aeußerungen immer das unbewußte
nen begründet erscheint. Aber Dr. R. St. hat es für
Eingeständnis einer Schwäche. Und das ist's. Wir
richtig gefunden, bei dieser Gelegenheit der Leitung
sehen ein Volk, das dem unseren rassenfremd ist und durch
der Kammerspiele nahezulegen, den Feldruf „Lo¬
die Schuld unserer grausamen Vorfahren im eigenen
von Wien“ auf die gesamte Wiener literarische Pro¬
Land zum Haß gegen uns in tierwürdiger Einpferchung
duktion anzuwenden — so scheint es uns doch Pflicht
großgezogen wurde, allmählich Gewalt über uns gewin¬
eines jeden Menschen, der irgendwann und irgend¬
nen und wir sind nicht im Stande, diese Gewalt zu bre¬
wie einmal mit dem Begriff „Kultur" in Verbindung
chen. Wir schimpfen über die schlimmen Eigenschaften
trat, einer derartigen, ebenso tief-Provinziellen, wie
des größten Teiles dieser Rasse und vergessen völlig, daß
horizontarmen geistigen Auffassung von Kunst im
unsere Ahnen es waren, die in jahrhundertelanger, be¬
Allgemeinen und im Besonderen entgegenzutreten und
Die Red.
einmal Prinzipielles dazu sagen zu lassen.
stialischer Knechtung diese Eigenschaften großzogen, von
denen die Geschichte nichts wußte, ehe ein künstlich ent¬
In Innsbrucker Tagesblättern gewisser Richtung ist
falteter religiöser Haß ein ganzes Volk der fürchterlichsten
in letzter Zeit immer auffälliger eine Erscheinung zu Tage
Unterdrückung überantwortete, die die Geschichte kennt.
getreten, gegen die Stellung zu nehmen notwendig ist:
Man sagt mir darauf, daß diese Genese für unser leben¬
es wird versucht, nach der Religion nun auch noch den
des Geschlecht belanglos sei und wir trotzdem mit allen
zweiten Tempel der Menschheit, die Kunst, mit Politik
Mitteln trachten müssen, uns vom fremden Einfluß zu
zu schänden. Ist es nicht genug des Greuels, daß man
befreien. Belanglos? Sind wir nicht sonst so innig mit
aus Stätten der Erhebung und Anbetung Agitations¬
unserer Geschichte verwoben und so stolz auf die Taten
lokale machte und in Christi Namen Bauern fing?
der Väter, so beredt im Vermelden alten Heldenruhms:
Anläßlich der Aufführung von Schnitzlers „Anatol
Dann müssen wir auch einstehen für ihre Sünden, meine
wurde bei Beginn der Besprechung der Szenen der Ruf
Lieben, wenn wir Männer sein wollen! Und vielleicht
„Los von Wien“ erhoben und gefordert, man solle aus
doch einmal zur Erkenntnis gelangen, daß nur wir Ein¬
dem Spielplan der Kammerspiele Stücke solchen Inhalts
zelne so ganz belanglos sind, so lächerlich Aufgeblasene,
streichen und sich frei machen von dem verjudeten dela¬
die kurze Erscheinungsform unseres Daseins für so be¬
denten Wiener Literatentum. Es wurde gesagt, daß Pro¬
deutend zu halten, daß wir Entwicklungen Gesetze vor¬
bleme dieser Art „unwürdig seien und daß die Erotik nicht
schreiben könnten! Und alles ist organische Entwicklung!
das Wichtige im Mannesleben darstelle“.
Hier geschieht nichts, was nicht tief und tiefst begründet
Zu all diesen Aeußerungen ist Punkt für Punkt zu
wäre und die Fäden alles Geschehens sind innigst unter¬
sagen: Die Wertung eines Kunstwerkes ist freilich immer
einander verknüpft. Wir werden sie niemals entwirren.
individuelle Geschmacksache und wir sind froh, daß es auf
So ist auch diese Prävalenz einer fremden Rasse organisch
diesem Gebiet keine starren Formeln gibt. Aber es geht
notwendig über uns gekommen und sie ist nicht mit
nicht an, den Wert einer Dichtung nach der Konfession
Pogromen aufzuheben und mit Beschimpfungen: organisch
oder Rassenzugehörigkeit des Autors zu beurteilen, oder
notwendig wird sie wieder verschwinden, wenn wir uns
als Richtschnur der Bewertung die Differenz zu nehmen
als die Tüchtigeren erweisen! Denn im Leben der
die sich zwischen den in der Dichtung vorgetragenen An¬
Völker gibt es nur ein Ethos: die Kraft, die immer wie¬
sichten und dem parteipolitischen Bekenntnis des Kritikers
der den Vorherrschenden von den Unterdrückten entwun¬
ergibt. Denn ein solches Bekenntnis ist eine Enge und
den wird, die in Not und Drangsal zu Höchstleistun¬
Begrenzung, die Kunst aber die Weite alles menschlichen
gen geschult werden.
Fühlens und Denkens. Es würde einem solchen Kritiker
So haben uns die Juden in der Literatur überflügelt,
wohl kaum einfallen, ein Werk für schlecht zu erklären,
weil sie rascher als wir die Zeichen der Zeit zu deuten
weil ein Russe oder Engländer es schrieb, denn die Ver¬
wußten und ins Leben stiegen, als die abgestempelten
dächtigungen dieser Rassen fallen in ein anderes seiner
Führer deutschester Richtung in der Epoche der Eisen¬
Fächer. Es ist nur die eine Rasse, gegen die hier pole¬
bahnen, Flugzeuge und Telegraphen immer noch mit un¬
misiert wird: die jüdische. Und damit ist diese schwere
geschlachten Handen die Banner daseinsfremder Phrasen¬
Frage, die heute mehr als je die Geister beschäftigt, auf¬
deale emporhielten. Wer kauft denn die Bücher eines
gerollt und es ist notwendig, dazu einmal ein Wort zu
Schnitzler und wer klatscht seinen Theaterchücken Bei¬
sprochen, besonders in Hinblick auf die Tatsache, daß aller¬