II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 506

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4.9. Anatol
Zyklus
Widerhall
Nr. 84
Seite 8.
Lebens. In „Anatol“ stellt uns der Autor einen Men¬
fall? Doch das große deutsche Publikum der Literatur,
schen vor, der in seinen Schwächen viel Verwandtscha
das heute eben etwas anderes verlangt als Schargesänge
mit jedem von uns hat, und der gerade durch das, was
und hohles Gewäsch, weil es reifer wurde und erkennt:
ihn auszeichnet, sein tiefes Verwachsensein mit seinen
hier ist ein Meister, der uns wieder einen Schritt weiter
Heimatboden, seiner Heimatstadt, mit Wien, dokumentier
hineinführt in das unbekannte Land der Seele. Denn das
„Die Frage an das Schicksal, die Anatol nicht zu stel
ist ja doch der Sinn der Dichtung und so wurde er von den
len wagt, da ihm letzten Endes seine Illusionen mit a
wahrhaft Großen verstanden, Schleier um Schleier zu
ihren Zweifeln lieber sind als die hüllenlose Wahrhei¬
lüften, nicht aber, das Unbekannte noch mit neuen bun¬
die er fürchtet, ist nicht nur für Anatol von Bedeutung
ten Mänteln zu umhängen! Wir müssen das auch
Aber die Art und Weise, wie Anatol zu seinem Ent¬
schlusse kommt — oder besser gesagt nicht kommt, ist ty
lernen! Aber damit, daß wir auf Schnitzler schimpfen
pisch für jenen liebenswürdigen, weichen, etwas ver¬
und eigene Impotenzen beräuchern, damit, meine Lieben,
träumten, unentschlossenen Wiener, der vielleicht überall
werden wir nicht weiterkommen!! Auch damit nicht, daß
anderswo — in den „Kammerspielen ganz gewiß — star¬
unsere Hochschuljugend Mensur und Bierkomment be¬
Gefahr liefe, zu einer Karrikatur zu werden, nur eben
treibt und die Kenntnis deutscher Dichtung und deutschen
in Wien nicht!
Geisteslebens den verachteten, ausgeschlossenen Juden
Die Darstellung hat den Anforderungen, die Schnitz¬
überläßt, wie es zurzeit noch fast allgemein geschieht.
ler im Allgemeinen und Anatol im Besonderen will, nur
Arbeiten müssen wir, tüchtig sein, dann werden wir, wenn
wenig Rechnung getragen. Die Wirkung der kleinen
Stücke ist dadurch auch völlig verloren gegangen, oder
schon von Kampf noch solange die Rede sein muß, bis
zumindest in ein anderes Gebiet gedrängt worden
wir endlich soweit sind, nicht mehr zwischen Rasse und
Duniecki betonte zu sehr die Schwächen in Anatols
Konfession, sondern zwischen anständigen Menschen und
Gestalt, ohne ihr alle Vorzüge zu leihen; die gewinnen¬
Pöbel zu unterscheiden, zurückerobern, was uns verloren
den und erwärmenden Züge fehlen und Komik tritt offen
ging.
hervor. Ritter (den übrigens der im Saale verteilte
Ich bin kein Jude. Auch kein Judenfreund
Theaterzettel in wenig liebenswürdiger Weise als Rudolf
noch Judenfeind. Ich suche nur in jedem Menschen nach
Ferstel anführte) spielte den Max mit jenem sicheren Ge¬
Wert oder Unwert. Was aber das Uebrige anbelangt,
fühl für das Wesen der Rolle, das ihn auch sonst aus¬
Herr Kritiker, habe ich die Pflicht zu sagen: Gewiß ist der
zeichnet. Er war vielleicht der einzige Darstellende, der
seine Aufgabe restlos erfüllte. „Das Abschiedssouper" war
Anatol kein Vorbild und Muster bürgerlicher Moral.
der glücklichste Teil des Abends. Duniecki fand sich hier
Mir ist aber auch nicht erinnerlich, daß der Autor je be¬
am besten in seine Rolle, man konnte fast vergessen, daß
tont hätte, er hielte ihn dafür. Hier wird nur Leben ge¬
er eben doch kein Anatol ist! Angela Agel schien, so
zeichnet. Ich höre sagen: so lebt man eben nicht, das ist
gute Augenblicke sie auch hatte, der irrigen Meinung zu
unmoralisch. Ich gebe zu: es ist unmoralisch, besonders
sein, „Anatol“ wäre eine Posse! Es ist jedenfalls schade,
im „Hochzeitsmorgen“. Aber, meine Herren, wer von
daß die feine Pointe am Schluß in einer „Handvoll
uns hat nie unmoralisch gelebt? Ich glaube, wir alle
Vanillecreme unterging. — (Dem Publikum machte die
würden die Befragung in der Hypnose scheuen! Woher
Creme übrigens sicherlich mehr Vergnügen, als alles
aber nehmen wir dann den Mut, mit großer Geste etwas
andere...) „Anatols Hochzeitsmorgen. Der Vorhang
teilte sich — und schon befiel uns ein leiser Katzenjammer!
zu verdammen, das auch wir einmal getan? Hier ist die
Daran ist aber nicht der Titel des Aktes schuld, sondern
Sünde auf Seite der Moralisten: die schwerste, unver¬
die szenische Aufmachung. Anatol, Max und Lo
zeihlichste Sünde: der erkannten Wahrheit widerstreben.
Bertram als Ilona liehen der flotten Szene so viel
Denn Sie und ich und wir alle wissen, daß das Leben
Lebendigkeit und Humor, als es die allzu krasse Bühnen¬
solche Dinge bringt und daß der keusch in die Ehe tretende
wirklichkeit zuließ! Das Publikum hat an diesem Abend
Mann die seltene Ausnahme ist. Sind wir also alle
viel gelacht und in die Hände geklatscht, meist natürlich
dekadent? Oder ist es nur der, der den Mut hat, die Wahr¬
am unrechten Ort. Doch das ist kein Vorwurf, der den
heit auch zu sagen? Warum, mein Herr, ist Ihnen
Dichter trifft, vielleicht nicht einmal die Darsteller
N. B.
dann nicht auch Goethe ein Dekadent? Hat er doch in
sicher aber das Publikum...
seiner Weise unzählige Male das Gleiche behandelt und
sind doch seine besten Werke unmittelbar oder mittelbar
Bruder
„Los von Wien!" Ueber Kranewitters
seiner großen Erotik entsprungen?
Ubaldus
— der nach der Uraufführung im Winter
durch die Exlbühne von der heimischen Kritik über
Nein, das dürfen keine Richtlinien sein! Sie führen
die Maßen als „ein mächtiges Dichtwerk Tiroler Heimat¬
uns zur Verlogenheit. Zu der verwerflichsten Verlogen¬
kunst" gepriesen wurde — ist man anderswo, wo die Kri¬
heit, die es gibt, zu jener, die heute vom biederen Tiroler
tiker sicherlich nicht weniger sachverständig oder düm¬
Bauern spricht, der seit mehr als 2 Jahren aus Habgier
mer sind, aber schon sehr anderer Meinung. Wir wollen
Tiroler Städtekinder verhungern läßt, weil der ver¬
hier eine der bisher uns zugekommenen Kritiken ab¬
lästerte, dekadente Wiener Inde ihm ein paar Kronen
drucken — es ist die der „Zeit — die anläßlich der diese
mehr für Milch und Butter zahlt, und die den Juden
Woche stattgefundenen Erstaufführung des Stückes in
Rathenau verachtet, der beim Zusammenbruch sein ge¬
Wien erschien, und vielleicht ist es in Zukunft doch zu ver¬
samtes Vermögen von vielen Millionen dem Vaterland
hüten, daß wir Werke als repräsentierend vor eine nicht
durch Lokalpatriotismus und Künstlerkammer=Diktatur
zur Verfügung stellte....
beeinflußte Kritik hinausschicken, die es nicht sind...
Wir sind in einer wirren Zeit, die Geister aufge¬
Die „Zeit" schreibt: „in Rahmen des Gastspiels der
regter denn je und schier unüberbrückbar stehen die Mei¬
Ex=Bühne zum erstenmal „Bruder Ubaldus, eine Tra¬
nungen einander gegenüber. Nur eines tut not: Beseelt
gödie von Franz Kranewitter. Ubaldus ist, wie schon
sein vom heißen Drang nach Gerechtigkeit und das
aus den dunklen Vokalen seines Namens hervorgeht, ein
für Recht Erkannte ohne Scheu zu sagen. Dann werden
finsterer Eiferer, der sich an Hexenprozessen gemütlich tut.
wir alle das Einigende aus dem vielen Trennenden fin¬
Sein Gegenstück ist Bruder Faustinus, milde und weich
den: unser Menschsein...
Dr. Siegfried Ostheimer.
wie Butter. Eine blonde, schmackhafte Hexe, den Ver¬
brennungsgelüsten des Übaldus mit Mühe entronnen,
will es ihm heimzahlen, ganz gehörig. Und so, da gerade
Innsbrucker Kammerspiele.
eine Papstwahl im Gange ist, erzählt sie dem Abaldo, die
Anatol. Schnitzlers Psychologie gleitet scheinbar an
Parteien hätten zwischen ihm und Faustinus geschwankt
um endlich diesen zum Papst zu erkuren. Folglich geht
der Oberfläche, aber nur scheinbar. In Wahrheit leuch¬
tet sie tief in unsere Seele und holt gerade das hervor,
Ubaldus prompt auf den Leim, bringt den Faustinus um,
was wir am liebsten und hartnäckigsten verbergen, was
wird dann von der Hexe umgebracht, worauf sich diese,
da kein passender Partner zur Stelle ist, selbst umbringt.
wir — ist es einmal entdeckt — nur allzu gerne mit einem
spöttisch überlegenen Lächeln abtun möchten!
Das Stück zählt nur vier Personen, drei davon erliegen,
Schnitzler weiß, daß der tragischeste Konflikt, das
ehe es zu Ende geht, den inhumanen Absichten des Dich¬
ters. Der vierte Mann im Spiel bleibt nur deshalb am
kühnste Problem und seine geschickteste Lösung uns weni¬
Leben, um das Schlußwort zu sprechen. Die Verlustliste
ger von des Menschen Eigenart erzählen, als die ge¬
wöhnlichen, unscheinbaren, unbeachteten und gerade des¬
ist, wie man sieht, betrübend genug. Auch sonst gibt es
halb so verräterischen Begebenheiten des täglichen
in dieser Dichtung, in der die seichteste Prosa auf Ver¬