II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 592

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4.9. Anatol Zyklus
ANATOL in PARIS.
Aus Paris berichtet unser Korrespondent: Im Theater
des Avenue spielen unter der Leitung von Dr. Georgette Boner
und Michel Tchechow französische Künstler fünf Szenen aus
Arthur Schnitzlers „Anatol. Schnitzler ist tot, sein Wiener
Don Juan Anatol bleibt unsterblich. Es gibt grössere und tiefere
Dichtungen Schnitzlers, aber nach meinem Empfinden keine, die
blut warmen Menschen inniger das Herz umschmeichelt. Eigent¬
lich muss der Kritiker ein Wiener sein, um den Reiz dieser hei¬
teren Melancholie ganz zu empfinden. Da aber, dem Himmel sei
Dank, der Anatol nicht mehr kritisiert zu werden braucht, darf
auch ein Mensch aus dem Norden seine Freude bekennen, wenn
in dieser kaltschnauzigen Welt einmal holdere Bilder aus einer
froheren Zeit vor den der Schönheit entwöhnten Augen er¬
scheinen. Es war ein merkwürdiges Erlebnis, durch die guten
Uebertragungen von Maurice Remon, M. Vaucaire und Suzanne
Clauser und die erstaunlich gelungene Darstellung die oft
wiederholte Banalität der Aehnlichkeit zwischen Wien und Paris
in feinerem Sinne bestätigt zu sehen. Anatol und die Mädchen
und Frauen seiner Liebe und seiner Enttäuschungen wurden dem
Pariser Publikum so verständlich, dass einige französische Kri¬
tiker den Wunsch aussprechen, diese Szenen und diese Dar¬
stellung möchten gallischen Dichtern und Spielleitern als Muster
dienen.
Das stärkste Verdienst an diesem Erfolg gebührt unzweifelhaft
der Schweizerin Georgette Boner, die eine starke Begabung für
klare szenische Bilder und für die Durchleuchtung moderner
Menschen besitzt. Diese Fähigkeit hat sich schon in der Inszenie¬
rung von Bruckners „Krankheit der Jugend“ gezeigt. Dass
Georgette Boner auch die hellere Sinnlichkeit weniger kompli¬
zierter Naturen nachzufühlen vermag, war für manchen eine an¬
genehme Ueberraschung.
Die beiden Männerrollen des Anatol und seines Freundes Max
waren mit Louis Raymond und Alfred Penay besetzt, zwei Künst¬
lern, die, soweit es mir bekannt ist, grosse Erfolge in Paris noch
nicht gehabt haben, die aber solche Erfolge eher verdienen als
manche berühmteren Darsteller. Die Frauen, Vera Scherbane,
Yvette Andreyer, Dagmar Gérard und eine französisch sprechende
Deutsche, Irene Hupka, hatten es leichter als die Männer; die
Liebe ist für die Frauen das Esperanto der Bühne und wie sollte
Schnitzler einem jungen Weibe unverständlich bleiben?
Das Publikum war entzückt, die Kritiker, die sich einige Tage
Zeit liessen, entdecken, dass Schnitzlers resignierte Ironie dem
französischen Esprit sehr nahe kommt. Kann ein Pariser Kritiker
höher schwören?
P. B.