II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 624

4.9. Anatole-
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„OBSERVER
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WIEN, I., WOLLZEILE 11
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Ausschnitt aus:
Grazer Tagblatt,
vom 17. Februar 1933.
Theater und Kunst
Schnitzlers „Anatol“
Gastspiel von Bürg- und Volkstheater=Mitgliedern
Gestehen wir es uns ruhig und vorbehaltlos ein: wir
haben das Verständnis für Schnitzlers Figuren ver¬
loren, uns gehen diese Dämmercharaktere, die nichts
anderes zu tun haben, als über ihre breitgetretene Er¬
tik nachzugrübeln, herzlich wenig an. „Wühlen" nennt
das einmal Anatol richtig. Wir wühlen nicht gerne, wir
bevorzugen Klarheit und weite Sicht. Wir lieben auch
nicht das Zwielicht der seelischen Vieldeutigkeit, wir er¬
bauen uns vielmehr an geradlinigen, herzhaften Men¬
schen. Vollends die Passivität, das Keuchen unter der
Bürde der uns aufgelasteten Triebe, das Spiel mit
der Sentimentalität, hinter der doch bloß die beschnitt¬
tenen Krallen eines Raubtierchen stecken, sind uns
wenig erfreulich.
Daß Schnitzler, der ein typischer Vertreter seiner rasch
verblühten Epoche ist, heute noch immer viel gespielt
wird, liegt vor allem an den schauspielerischen Aufgaben,
die er stellt. Sie sind ein dankbares Feld für die dar¬
stellerische Begabung. Und in der Tat: in glänzender
Darstellung wird uns Schnitzler noch immer erträglich,
ja genußreich.
Der Abend, den uns die Wiener Gäste boten, war
eine Leistung von fast kammermusikalischer Feinheit
und schönster farbiger Abstufung. Raoul Aslans
Anatol ist ein Kabinettstück intimer Porträtkunst. Salon¬
schliff und Gefühlsduselei, Triebhaftigkeit und Nerven¬
schwäche, die Fülle der Lebemannssucht und der Funke
von männlichem Idealismus sind in eine richtige Mi¬
schung getreten, die durch den Zuschuß von ein bißchen
Humor, ja von Sarkasmus sichere Wirkungskraft besitzt.
Das unsentimentale, blutstärkere Gegenstück hiezu
zeichnete Paul Wagner mit herzhaften und sympathi¬
schen Strichen. Von den Damen bot vor allem Almia
Seidler eine prächtige, erheiternd Typenstudie in der
Gestalt der handfesten, magentüchtigen und mundwerk¬
rührigen Annie. Maria Kramer meisterte die Wiene¬
rische Note gut. Ebba Johannsen milderte die Herb¬
und Derbheit der Ilona durch fraulich warme, gewin¬
nende Züge und war auch als Gabriele von vorteilhafter
Einfachheit.
Das volle Haus feierte die Gäste mit herzlicher Teil¬
Dr. N. L.
nahme.