II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 656

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4.9. Anato
Zyklus
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rovinz in Oesterreich zählt so viel tüchtige und ernsthafte Elemente, Erfolg zu schmeicheln. Anatol würde als Diplomat gewiß Erfolge
haben. Keine schlechtern als Friedrich v. Gentz, der in der öster¬
nd in Wien weiß der kleine Mann, der Handwerker und Arbeiter
reichischen Staatskunst vor hundert Jahren eine bemerkenswerte
uch recht gut, daß er sich rühren muß, um im Leben zurecht¬
ukommen. Aber, wenn sie im Volkstheater oder sonstwo Anatol, Rolle gespielt hat, und der ja in seiner Jugend auch eine Art
en liebenswürdigen Taugenichts, mit Bianca und Cora lieben Anatol gewesen ist. Dem müßte unser Held nacheifern. Und es
ehen, klatschen sie Beifall und haben ein Gefühl geheimer Be¬ wäre nicht der schlechteste Witz, wenn sein Dichter nach so viel
hübschen Episoden, die voll Jugend und Liebe und Glut sind,
wunderung. Die Bewunderungssphäre Anatols hat sich auch nach
Korden verpflanzt, seit sein Dichter Schnitzler ihn nach Berlin noch einen Ergänzungsdreiakter schreiben könnte: „Exzellenz August.
gebracht hat Allzuweit hat sie sich dort aber nicht ausgedehnt,
so weit meine Kenntnis reicht. Das Land der Pflicht und des
kategorischen Imperates ist nun einmal keine Wirkungsstätte für
Anatol.
Es ist bei alledem gar nicht zu leugnen, daß Ancto Stil
hat. In seiner Ausdrucksweise, in seiner Bewegung, wie in jeder
Geste bewahrt er sich jenen Sinn für die Form, der fast immer
nur ein Erbteil alter Kulturen und guter Ueberlieferungen ist
Darum kennt er ja auch trotz seiner ewigen Liebschaften keine
wirkliche Leidenschaft, denn die Leidenschaft fragt nichts nach der
Form; sie geht rücksichtslos über diese weg. Für Anatol wäre es
„horrend, etwa zum Girardi=Hut ein schwarzes Beinkleid zu
tragen, und er würde bei der leidenschaftlichsten Liebeserklärung
schleunigst aufstehen, wenn er an seinem Rock oder an der Hose
einen Schmutzfleck entdeckte. Er hat eben diesen ausgeprägten
Sinn fürs Aeußerliche, der eine Eigenschaft seiner Rasse ist.
Ein Nachteil? Darüber kann man verschieden urteilen. Der Sinn
für das Aeußerliche und die Form ist etwas Wesentliches, im
Verkehr sowohl der Menschen wie der Völker, bei den kleinen
Ereignissen des Gemütes wie bei den Dramen der Politik. Man
kommt viel weiter, wenn man gewisse Berechnungen unter sehr
liebenswürdigen Formen versteckt; das höchste ist, diesen Formen
den Anschein einer großen Natürlichkeit und Ungezwungenheit
zu geben. Dem Norddeutschen fällt dies außerordentlich schwer,
der Oesterreicher macht es spielend. In der Figur Anatols steckt
daher sicher Stil, so wie in einem Lannerschen Walzer Stil steckt,
in einem Makarischen Gemälde oder in den großen Renaissance¬
palästen am Ring. Das alles ist nicht etwa ganz Oesterreich
ebensowenig wie Anatol ganz Jung=Wien vorstellt), aber, so
wie es ist, konnte es nur in Oesterreich entstehen, hat echt öster¬
reichischen Stil. Dies halb südliche Temperament eines begabten
Volkes, mit einer großen Empfänglichkeit für alle Lebensreize,
mit einer hübschen Neigung, sich und andern gern etwas vor¬
stadtironie — dies alles nahm
zuspielen, dazu die Wiener Ge¬
der Dichter zusammen und schuf daraus die Figur des Anatol
Alles in allem: man kann sehr viel, aber will man eigentlich
etwas? Neuerdings und besonders infolge der letzten Ereignisse
trifft man nun auch in Oesterreich wieder Leute, die viel wollen.
Man sieht und hört sie in den Kaffeehäusern, sie diskutieren in
den Gemeinderäten und in den Zeitungen; sie haben oft preußische
Ideale, auch wenn sie auf die Preußen jetzt und früher schimpften.
Sie lernen sogar etwas, was bisher dem deutschen Oesterreicher
tum so ziemlich gänzlich versagt war: Sachlichkeit.
Merkwürdig, wie wenig Leute man bisher in Oesterreich
traf, die sachlich sein konnten. Diese Eigenschaft „Sachlichkeit
liegt nicht im Programm der Rasse. Sprach man einmal mit
einem Oesterreicher über seine politischen Angelegenheiten, so kam
eine solche Fülle von Voreingenommenheiten, subjektiven Meinungen,
Haß ohne Prüfung, Leidenschaft ohne Begründung heraus, daß
der Ausländer und insbesondere der Reichsdeutsche wie vor einem
unentwirrbaren Knäuel stand. „Hoffnungslos — Kein Mensch
kann da durchfinden — Das war gewöhnlich die Antwort, die
einem in den letzten zwanzig Jahren jeder Reichsdeutsche gab, dem
man von innerer österreichischer Politik sprach. Das lag weniger
am Stoff als an der Art, wie die Oesterreicher ihn darstellten.
Und man gewann die Ueberzeugung jenseits der schwarz=gelben
Grenzen, daß die inneren Angelegenheiten dieser Monarchie einen
La, Ver¬
Rattenkönig von Fragen darstellten Dieser völlige Mangel an
Sachlichkeit mag vielleicht alte Erbschaft aus süddeutschem und
keltischem Blute sein; er ist sicher auch eine Folge der nun jahr¬
zehntelangen Sticheleien und Ränke der Völker untereinander, des
ungen.
unablässigen Federkrieges, der endlosen Streitigkeiten, der steten
Vergiftung einer ewig neu aufgepeitschten öffentliche
die „Köln. Z." aus
In bezug auf Sachlichkeit hat der Oesterreicher von dem
den Versuch macht, fühlern Norddeutschen alles zu lernen. Sachlichkeit ist nicht nur