II, Theaterstücke 4, (Anatol, 5), Abschiedssouper, Seite 72

(Ensemble= Gastspiel von Mitgliedern des
Deuschen Theaters in Berlin.)
Vor gut besetztem Hause fand gestern die Eröffnungs¬
Vorstellung des für zwei Wochen anberaumten Gastspieles
einer größeren Anzahl von Mitgliedern des Deutschen
Theaters in Berlin statt und brachte als eigentliche Novität
eine „Tragikomödie“ in 3 Aufzügen: „Das Lumpen¬
gesindel“ von Ernst v. Wolzogen und den hier
bereits bekannten Einakter: „Abschiedssonper“ von
Arthur Schnitzler zur Aufführung.
Das Publikum, das vornehmlich aus den Premièren¬
Habitnes und den literarischen Kreisen Wiens bestand,
brachte den Berliner Gästen sympathisches Interesse ent¬
gegen und der Erfolg des Abends war ein sehr freund¬
licher, galt aber entschieden mehr der gerundeten Dar¬
stellung, als der aufgeführten Novität, die mit dem Rüst¬
zeug der modernen Veristik arbeitet und damit ein leben¬
diges Bild der Berliner Schriftsteller=Bohème auf die Bühne
stellt, aber wenig Handlung und inneren Gehalt besitzt. Die
Ehe eines Mädchens aus dem Volke, das einen mächtigen
Drang nach höherer geistiger Bildung besitzt und deshatb
freudig die Gattin eines begabten, auf seine Unabhängigkeit
stolzen, wenn auch in sehr prekären finanziellen Verhält¬
nissen lebenden Schriftstellers wird, erfährt nach kurzer
Dauer eine starke Trübung, als ein leichtlebiger Bildhauer
aus Wien austritt, welcher der jungen Frau als Schreckbild
einer dunklen Episode aus ihrem Mädchenleben erscheint.
Beide hatten sich vor ein paar Jahren bei einem Künstler¬
50
Für
100 feste gefunden und in der Anwandlung eines heißen Sinnes= inclusive
rausches ging die Unschuld des Mädchens verloren. Mit oro
200
dem „Fleck auf der Ehr'“ krat die gute Else trotzdem in den Zahlbar
500
Ehestand, hatte aber nicht den Muth, den Gatten über ihr im Voraus.
„ 1000 Vorleben aufzuklären. Hiezu wurde sie von ihrem Vater,
I einem Polizei=Wachtmeister, der trotz seiner amtlichen hitte ist das
Abonnen Stellung als Hüter der Moral in punkto der Frauenwürde: steht es den
sehr liberale Anschauungen offenbart, zunächst veranlaßt, udern.
Abonner
Des Oefteren drängt es sie wohl zu einem Bekenntnisse,
das aber durch die Gegenwart eines Schwagers, der mit
dem Ehepaare im Haushaite lebt, aufgehalten wird. Das
Erscheinen ihres Verführers läßt die gequälte Frau jedoch
den Betrug an ihrem Gatten in seiner vollen Größe er¬
kennen, sie fühlt sich der ehelichen Gemeinschaft nicht mehr
würdig und flüchtet in das Vaterhaus zurück, wo die see¬
lische Aufregung sie auf das Krankenbett wirst. Der Gatte
stürmt ihr nach und es erfolgt nach einer peinlichen Aus¬
einandersetzung mit dem Verführer die Verzeihung und Ver¬
söhnung, nachdem auch der Schwager erklärt hat, das Haus
des Bruders verlassen zu wollen.
Der matte Schluß befriedigt ebensowenig, wie die in den
Motiven schwach geführte Handlung. Wolzogen sucht den Effelt
seines Stückes mehr in der Schilderung des gewählten Miliens,
hat, gleichwohl aber dabei
das er mit sicherem Blick erschaut
osition ist das Beste an
in Uebertreibungen verfällt. Die
Kneipszene im zweiten
dem Stücke; eine große häus
Akte aber mit dem sentimentalen Pendant der an ihren
Gewissensbissen leidenden jungen Frau wirkt mehr abstos#end
als wahr, wie sich denn überhaupt der Antor an veristisch
sein sollenden Details nicht genug thun kann. Daß der gute
Geschmack hiebei mehrmals zum Nachtheile kommt, scheint
Herin v. Wolzogen nicht weiter zu geniren. So ist die
Nothwendigkeit nicht einzusehen, warum der lüderliche Bild¬
hauer mit seiner, von einer recht gemeinen Gesinnung
zeigenden Lebensauffassung just ein Wiener sein soll. Das
Stück, dessen Titel übrigens nur ironisch gemeint ist, ist
doch aus dem Berliner Boden geschöpft und bedarf des
fremden Einschlages nicht. Subjekte von der niedrigen Den¬
kungsart dieses Bildhauers, der ganz selig ist, daß seine
plastische Gruppe durch einen Zufall zertrümmert wurde,
weil er nun eine stattliche — Versicherungssumme erhält
und einige Zeit ein vergnügtes Leben führen kann und der
sein Verhältniß zu der Frau seines Freundes von geradezu
chnischen Gesichtspunkten aus beurtheilt, mögen in jeder
Großstadt sporadisch vorkommen. Einen solchen Gesellen
ausdrücklich aber zum Wiener stempeln, ihn vielleicht gar
als einen Typus unserer Künstler=Bohème erscheinen lassen
zu wollen, erscheint uns doch wenig geschmackvoll und wir
können jenem Bruchtheil des Publikums nicht Unrecht geben,
der gestern entschieden gegen diese Ueberraschung, die sich
schon in Anbetrocht der Eröffnungsvorstellung sehr sonderbar
ausnahm, protistirte. In Berlin hätte es in einem gleichen
Falle wohl Sturm gegeben.
Doch können wir dem Darsteller der satalen Rolle, Herrn
Martin, die Anerkennung nicht versagen, daß er sich be¬
mühte, möglichst diskret zu sein. Der günstige Eindruck des
Abends beruhte überhaupt auf der guten Darstellung. Die
Breliner Schauspieler boten ein trefflich geschultes Ensemble,
das in Allem und Jedem klappte. In den männlichen
Hauptrollen zeichneten sich die Herren v. Winterstein,
Kayßler und Nissen aus. Der Letztere bot als Polizei¬
wachtmeister eine dem Leben abgelauschte, farbensatte Figur.
Sehr brav spielte Frl. Trenner die schuldbewußte Frau.
Ein feines Charakterisirungstalent zeigte Herr Reinhardt
als Kommerzienrath und die Damen Wilke und Eberty,
sowie die Herren Biensfeldt und Vallentin wirkten
in Episodenrollen vortrefflich. In der Schnitzler'schen
Plauderei eroberte Frau Gisela Schneider das Publikum
durch ihre Verve und ein überschäumendes Temperament,
wenn wir auch manchmal einen Mangel an Grazie be¬
merken mußten. Herr Nissen als Anatol ist für diese
Partie weder jung noch elegant genug. Er bewährte sich
gleichwohl als guter Schauspieler. Die kleine Rolle des
Max gab Herr Biensfeldt gefällig, aber in zu steifer
Haltung, eine Schwäche, an der die Herren des Berliner
Ensembles fast durchwegs zu laboriren scheinen. Alpha.