II, Theaterstücke 4, (Anatol, 5), Abschiedssouper, Seite 73

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4.5. Abschiedssouper
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Ausschnitt
N. 63
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Ausschnitt aus: Wiener Tumblatt
vora 1/12)
Theater, Runst und Titeratur.
Raimund=Theater. Die Tragikomödie „Das
Lumpengesindel" von E. v. Wolzogen eröffnete Sonntag
das Gastspiel von Mitgliedern des Deutschen
Thraters in „Berlin. Sie nennen es „Ensemble¬
Gastspiel“. Damit soll wohl gesagt sein, daß der Ton
nicht so sehr auf der Einzelleistung liege, sondern haupt¬
sächlich eine besondere Kunst des harmonischen und
lebendigen Spieles aller Kräfte unter einander betreffe.
Das Deutsche Theater in Berlin ist eine ausgezeichnete
Schule, kein Zweifel. Man konnte und kann dies auch
in Wien an mancher Bühnenerscheinung erkennen, welche
das Schicksal aus der deutschen Hauptstadt zu uns her
geleitet hat. Es geht ein Zug von Naturwahr¬
heit durch diese Schule, welche, so lange sie nicht
das warme Leben mit einer selavisch trockenen
opie derselben verwechselt; nur als wohl¬
#thätige Reaction begrüßt werden konnte, gegenüber der
alten conservativen Auffassung, daß die von der Natur
möglichst weit entfernte Pose und Sprache der wahren
Bühnenkunst am angemessensten sei. Was wir Sonntag an
dem Deutschen Theater in dieser Hinsicht erfahren haben,
widerspricht dieser Auffassung nicht: Es herrscht ein allge¬
gemeines, sichtbares Bestreben, die Vorstellung in jeder
Für
10 einzelnen Phase auf dem Niveau der Lebensmahrheit unn #ere
stehende, auch in Wien in jüngster Zeit gesehen, und
20 erhalten, so sehr, daß an einigen Stellen, wo die starke
wenn man sich bei uns nur die Mühe geben wollte, sie
50 Derbheit des Lebens die Schwelle betritt, auch die schöne
wären nirgends leichter zusammenzubringen, als gerade
„ 100 Kunst über dieselbe Schwelle entflieht. Das Zischen,
an Wiener Bühnen. Und endlich: Eines schickt sich nicht für
welches sich im Publicum nach dem Schlusse des letzten!
Alle. Die Empfindungen und Auffassungen sind national und
Abonn Actes stark vernehmen ließ, galt gewiß nicht den Schau¬
geographisch verschieden. „Andere Städtchen, andere
Abonl spielern, welche vielmehr von einem großen Theil des
Mädchen!“ Es gibt auch für die Bühnenkunst keine
Hauses mit lautem Beifall begrüßt wurden, sondern dem
demonstrirbaren Schönheitsgesetze. Mancher Zug, welcher
Stücke Wolzogen's. Der Autor hatte einen ganz guten
gestern das Publicum befremdete, mag dem nordischen
Anlauf genommen. Es leben da zwei Brüder, Fritz und
Gemüthe recht gut behagen. In dem „Abschiedssouper“
Waldemar Kern, beisammen. Beide sind Schriftsteller, aber
von Arthur Schnitzler welches den Schluß des
Fritz ist verheiratet, das ist das Schlimme für ihn und seine
Frau. Denn obschon er seine Gattin liebt, vernachlässigt Abends bildele, kam des rechk drastisch zum Ausdruck.
er sie unwillkürlich zu Gansten seines Bruders und derWenn wir die Niese als „Annie“ denken, kann man
das realistische Zeitbild verstehen. Aber der „Annie“ des
Bohémiens, die auf seiner Bude zusammenzukommen
Fräuleins Gisela Schneider, welche die Intention des
pflegen, so daß der Keim eines großen Conflicts schon
Dichters in eine derbe Farce auseinunderreißt, wird kein
in der ersten Zeit der Ehe zu wachsen beginnt. Ein an
sich guter Kerl, denkt Fritz gar nicht daran, daß eine! Mensch die Schwärmerei der Lebemänner für ihre werthe
Person glauben. Die Rolle verlor jedes anziehende
Frau mehr ist als ein Wesen, welches sich nach dem
Element. Es ist eben allezeit gut, sich in der Beurtheilung
Stiefelputzen und Kochen in die Kammer zurückziehen
fremder Leistungen ebenso sehr vor dem voreiligen über¬
und nur dann ans Tageslicht kommen soll, wenn er ein¬
schwänglichen Enthusiasmus, wie vor dem vorurtheils¬
mal doch den Einfall hat, daß sie bei ihm sein und an
vollen Chauvinismus zu hüten. Maß halten ist aber schwer,
seinem inneren und äußeren Leben theilhaben sollte.
Ueberall steht der Bruder da, ein Barrièrestock der In= auch im ästhetischen Urtheil. Wir können diese Zeilen
timität, und die gute Frau ist ganz außer Stande, mit nicht schließen, ohne der Regie als eines nachahmens¬
ihrem Manne das trauliche Alleinsein, wobei mau sich nverthen Beispiels für die heimischen Bühnen zu #.
wähnen.
gegenseitig die Leiden und Freuden des Tages mittheilt,
zu pflegen. Der Wurm der Nichtigkeit des Kleinheits¬
wesens beginnt an ihr zu nagen; sie sinnt und sinnt, und
endlich kommt der Entschluß: sie will ihrem Manne ein
großes Opfer bringen, indem sie ihn verläßt und zu
ihrem alten Vater flüchtet. Der Bruder aber, der ist
doch der allein Gescheidte: Er hat längst die Sache durch¬
schaut und der Frau Recht gegeben. In seiner brüder¬
lichen Liebe besteht er auf der Trennung von seinem
Bruder und beseitigt so sich selbst als den Stein des Anfloßes.
Durch ihn wird Fritz erst auf die Situation aufmerksam
und schließlich zu der Gattin zurückgeführt, und die Sache
hat ein gutes Ende. Der Stoff reicht für sich zu einem
Stücke aus, und Wolzogen hat namentlich durch die übrigens
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