II, Theaterstücke 4, (Anatol, 5), Abschiedssouper, Seite 78

Abschiedssouper
1.5 k box 8/1
heber dieser interessaren Künstlerfahrt haben sich trotzdem nicht
abschrecken lassen uni die Berliner Darsteller standen gestern zum
erstenmale vor uns. Es ist das „Deutsche Theater“ zweiter
Rangelasse, das sie uns sehen ließen, die zweite Besetzung, nicht
die erste; dessen muß man bei dem Lobens= und Tadelnswerthen
des Gebotenen eingedenk bleiben. Man spielte in der Er¬
öffnungsvorstellung zum erstenmale „Das Lumpengesindel“
eine Tragicomödie von Ernst v. Wolzogen, und das
bekannte kleine Lustspiel „Abschiedssouper“ von Arthur Schnitzler.
Wolzogen hat kein Glück in Wien. Sein bühnenfähigstes, wenn
auch über die Entwicklungsstufe der ältesten Schule kaum hinaus¬
reichendes Stück: „Die Kinder der Excellenz“, ist nur während
eines Gastspieles gegeben worden, die übrigen Werke des Antors
blieben theils unbeachtet, theils wurden sie abgelehnt. Das
„Lumpengesindel“ ist eine schwache Nachahmung Murger's,
einem deutschen
dessen berühmte „Bohème“ nun
Milieu erscheinen. Während 'edoch der Franzose einen Griff ins
Leben that und wirklich realistische Schilderungen aus dem
Literatenthum der Pariser Dachkammer holte, besteht das deutsche
„Lumpengesindel“ in seiner Mehrheit aus verfehlt gezeichneten oder
carikirten Figuren. Die Bohème=Naturen Wolzogen's laufen in
den altenTheatermasken umher und brilliren mit den bekannten
Einfällen der Posse. Das stimmt zu den ihnen überlegenen eigent¬
lichen Helden des Stückes nicht, und aus diesem Mißver¬
hältniß entspringt zunächst die Eindruckslosigkeit dieser Tragicomödie.
Ihre Handlung dreht sich um das Geschick zweier literarischer
SBrüder, Friedrich und Wilhelm Kern; sie halten fest zusammen,
inniges Verhältniß dauert fort, auch nachdem
und ihr
Tochter des Polizei=Wachtmeisters
FFriedrich Else,
Polke, geheiratet hat. Die junge Frau und die beiden
um den
S Schwäger machen fälschlich, wahrscheinlich nur
O Principien des „Théätre libre“ zu entsprechen, den Eindruck des
bekannten und auf der Bühne längst wirkungslos gewordenen
Dreibundes. Nun kommt das niedere künstlerische Lumpengesindel
in den jungen Haushalt und „drängt die arme Frau“ nicht nur
figürlich „aus ihrem Bette“. Der Zuschauer ist mit seinen Sym¬
pathien bei der Frau, aber er erfährt, daß diese mit einem leicht¬
fertigen Wiener Bildhauer einen Fehltritt beging, und da dieser er¬
scheint, läuft sie auf und davon. Die Handlung springt ins Tragische um.
Figuren, die spaßhaft eingesetzt, bilden sich plötzlich zu Charak¬
teren aus, deren Vorbild wir im französischen Effectdrama ge¬
sehen. Gewiß ist im Leben zeitweilig auch eine solche Wandlung
zu beobachten, aber ohne die Kunst, diese glaubhaft zu machen,
gibt es keine Theaterwirkung. Leider entbehrt auch die Tragi¬
comödie Wolzogen's dieses unerläßlichen Vorzuges, und endlich
unvermittelt gebrachte Vermischung heiterer und ernster Motive
ließ die Tragik lächerlich, den Humor nicht genügend heiter
erscheinen.
Naturgemäß wirkte dieser Eindruck des Stückes auf den der
Darstellung zurück. Trotzdem war derselbe vielfach ein sehr
günstiger. Vortrefflich und mit künstlerischer Hervorkehrung der
verborgensten Absichten des Autors spielten die Herren Winter¬
stein und Kayßler das dichterische Brüderpaar, sym¬
pathisch gab Fräulein Trenner die junge Frau, glaubhaft
erschien Herr Martin als leichtblütiger Wiener, und einen
charakteristischen Eindruck machten in kleineren Rollen
die Damen Wilke und Eberty. Herr Nissen in der Figur
eines bald niedrig, bald tragisch polternden Schutzmannes drang
nicht völlig durch. Wir haben ihn noch in den Rollen im Ge¬
dächtniß, die er vor Jahren im Ausstellungs=Theater
hat damals in glänzender Weise den Be¬
spielte
fähigungs=Nachweis für einen Theil der Rollen Gabillon's
erbracht. Nach einiger Zeit gastirte er im Burgtheater als Bon¬
vivant und war hier trotz seiner Natürlichkeit ebenso behäbig und
schwer wie in seiner gestrigen zweiten Aufgabe, dem Anatol im
„Abschiedssouper“. Auch den Humor des Schutzmannes Polke,
dem er einen Bismarck=Kopf aufsetzt, detaillirt er zwar fein, aber
nicht überzeugend genug: sein Berlinerthum erschien selbst uns
Wienern nicht acht. Allerdings als später der Ernst und die biedere
Sentimentalität dieses Wachtmeisters erwachen, hilft Herr Nissen
dem Autor kräftig nach. Beinahe wäre es ihm gelungen, der theatra¬
lischen Sprache Wolzogen's den Eindruck der Wirklichkeit zu geben.
So ist Herr Niessen genau so wie all seine Collegen in den ernsten
Scenen erfolgreicher als in den heiteren gewesen. Der Berliner
Humor mit seiner scharfen, aus dem Witze des Verstandes ab¬
geleiteten Art ist unserem Publicum schwerer faßlich wie dem
norddeutschen Zuschauer, und doch hat es Berliner Komiker ge¬
geben, die hier ausnehmend und dauernd gefielen — ja Einer von
ihnen, Beckmann, half mit, den Ruhm unserer ersten Bühne
zu schaffen. Offenbar entscheidet auch hier die individuelle Kraft,
die bei einzelnen der Schauspieler, die wir gestern gesehen, ine
entschieden zu schwache ist. So erwiesen sich vornehmlich die Herren
Reinhardt, Biensfeldt und Dippel als sehr dünne
Humoristen; unstreitig sind sie mehr Schauspieler als Komiker.
In Schnitzler's „Abschiedssouper“ trat Fräulein Schneider
als treulos=flotte Balletratte besonders hervor. Ihre chargirte,
vielleicht zu chargirte Darstellung ist wirkiamer als die ihrer
Wiener Vorgängerin. Das Ideal für diese Ralle bleibt jedoch
— wenn von einem solchen in einer überpfefferten Nachahmung Don¬