II, Theaterstücke 4, (Anatol, 5), Abschiedssouper, Seite 101

mantes Aeines Stuck. „Lenoend de cravate“ ist namlich“
der albernste Einacter, der hier je aufgeführt wurde.
Solch eine Lappalie, allerdings nicht immer gar so
dumm, ist in Paris als „lever de rideau“ die erste
Concertnummer, der Puffer zwischen Alltags=Nüchtern¬
heit und Theatervorstellung, ist nur dazu bestimmt, über
das Stühleklappen und den Lärm der Nachzügler
hinwegzuhelfen. Daß unser Publikum pünktlich er¬
scheint und gleich allen Ernstes aufhorcht, wußten die
gewiß
Sie hätten sie sonst
Gäste nicht.
nicht aufgeführt, diese kleine Geschichte von der Frau,
die eifersüchtig ist, weil ihr Mann mit einer ##
gebundenen Cravatte von der Reise heimkehrt und sich
wieder versöhnt, weil sie sich überzeugt, daß er sich
wirklich selbst, ohne Hilfe einer Fran, die Cravatte
binden kann. „Henri Jean“, der als Verfasser zeichnen
muß, hat dafür wohl nur ein Pfeudonym und nicht
seinen ehrlichen Namen hergegeben. Die zwei braven
Künstler, die von Paris nach Berlin reisen um dieses
Stück aufzuführen, verdienen unser Mitgefühl.
Nun folgte „la main“. Die kleine Pantomime,
„Mimodrama“ nennt sie der Zettel, die Heüry
[Berény für seine Gattin geschriebenshat, ist hier aus
vielen und gar nicht üblen Aufführungen bekannt.
Frau Prasch=Grevenberg war die erste geschickte Dar¬
stellerind Vinette — es war in einer Wohlthätig¬
andere folgten.
keits=Matinse des Opernhauses
Mme. Wiehe, auf
Es ist nur selbstverständlich, daß
Stückchen zu¬
deren Eigenart das kleine
Rolle überdies
die
ihre
ist,
geschnitten
vielhundertmal erfolgreich spielte, sie ungewöhnlich
reich belebt. Mme. Wiehe sah pikant und reizend
aus, war von schelmischer Lanne in der Abfertigung
des Galans, tanzte ihre Balletstudie sehr zierlich, und
der auch musikalisch gut geschilderte Uebergang vom
heiteren Behagen zum Todschreck beim plötzlichen An¬
blick einer aus der Gardine sichtbar werdenden Hand
des Einbrechers war von großer Wirkung. Mr.
Sévérin=Mars war in jeder Geste überzeugend
echt als Einbrecher. Das kleine Stückchen, dem ein
guter Gedanke zu Grunde liegt und das von einer
am

lebendigen, farbenreichen Musik begleitet wird
Dirigentenpult stand Herr Béreny selbst — hatte bei
solcher Darstellung einen sehr lebhaften Erfolg.
Das „Abschieds=Souper“ aus dem Anatol¬
Cyklus von Schnitzler schloß sich an. In der
französischen Bearbeitung hat das feine Werk
mancherlei von seiner Frische und Echtheit verloren.
Die allzu elegante, allzu zierliche und etwas ver¬
feinerte „Louise“ der Mme. Wiehe ist auch keineswegs
die glaubhafte, eben aus dem Theater kommende Ballet¬
dame. Die wurde von der Niese, auch von der
Sandrock und allen anderen Darstellerinnen echter
dargestellt. Aber was kam's diesmal auf das fran¬
zösisch gewordene Wiener Stück an? Wie sie ihre
Rolle einmal gab, war Mme. Wiehe überaus graziös,
sehr anmuthend, sprach pikant und gewinnend und
erntete sehr lebhaften Beifall.
„L'homme aux poupées“ das zweite Mimodrama,
#as nun den Abend abschloß, gehört zur stattlichen
Gruppe der Theater=Automaten, der auf der Scene
zu Leben erwachenden Puppen. Das Geschlecht ist sehr
zahlreich: Coppelia, Nürnberger Puppe, Puppenfee,
die Operette „Puppe“ 2c., von allen ist „Ihomme aux
poupées“ in der Idee am dürftigsten. Was
kommt's aber auf die Idee an? Man läßt
sich ruhig die Geschichte von dem gedankenarmen
Dichter aufbinden, der sich an Puppen zum Dichten
begeistern will und dem nun seine eigene Frau als
Puppe erscheint, um ihn aufzurütteln, zu necken, zu
heilen. Man läßt sich die Geschichte gefallen, weil
Mme. Wiehe gefällt, weil sie in der Darstellung der
zappelnden, zusammenklappenden Puppe ein ganz un¬
vergleichliches Geschick, eine seltene, graziöse Virtuosität
entwickelt.
Man wird fragen dürfen, ob dieses reizende Geschick
eine Provinz der Bühnenkunst ist, und ob die
Schauspielkunst neben der Menschendarstellung auch
die Puppendarstellung zur Aufgabe hat. Man kann
im Zweifel darüber sein, ob derlei auf das eigentliche
Theater gehöre und nicht besser, nach allen Richtungen
hin ergiebiger, die Sensation einer großen Specialitäten¬
bühne sein würde. Aber man muß doch zugestehen, daß
Mme. Wiehe durch ihre Zierlichkeit, ihre Grazie, ihr
verblüffendes Geschick besondere Wirkung übt, daß sie
gewinnt and einnimmt, wo immer sie erscheint.
J. L.
„SI
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Ausschnitt aus:
Teseische Teltsos, Karkn
ase M
Theater und Musik.
Lessing=Theater.
Gastspiel Charlotte Wiehe.
* In der neu entdeckten dänischen Virtuosin Charlotte Wiehe, die
gestern im Lessing=Theater ihr Gastspiel begann, durfte man
zSchauspielerblut“ vermuthen — nicht weil die Reklame das
etwas aufdringlich ankündigte, sondern weil die Dame aus einer
berühmten Schauspielerfamilie ihres Vaterlandes stammt. Dieses
Schauspielerblut scheint sich indeß in der Descendenz etwas
verdünnt zu haben. Das Temperament der zierlichen Figu¬
rantin, deren Gestalt und Gesicht nicht auf den ersten Blick ein¬
hnehmen, aber in der Bewegung Reiz gewinnen, hat keinen starken
PPulsschlag; es vibrirt nur in den Zuckungen pikanter Erregung.
Das Können der Dame bewegt sich mit großer Sicherheit, aber
offenbar in enger Beschränkung an der Grenze zwischen Tanz und sive
Für
Schauspielkunst und zieht aus beiden Gebieten die leichteren to.
Wirkungen heran. Dieser Art spielender Virtuosität waren die bar
Gaben des Gastspielabends, zwei kleine Lustspiele und „raus.
oder eigentlich nur drei;
zwei Pautomimen, angepaßt

denn die einleitende Plauderei: „Le Noeud de Cravate“, st das
die vielleicht bestimmt war, Frau Wiehe als „Normalschauspielerin“ es den
Abonlzu zeigen, verfehlte vollständig ihren Zweck — sie zeigte nach allen
Abou Seiten hin nur Mittelmäßiges. Das Stückchen selbst — eine
nicht der Rede werthe Arbeit von Henri Jean — beruht auf nd die
einem leidlichen Einfall: Die allzu gut geknüpfte Kravatte des rgen¬
Inhal Gatten erweckt in der eifersüchtigen Frau den Verdacht, itung")
blä eine fremde weibliche Hand habe dem Ungetreuen den intimen aftliche
wodo Liebesdienst erwiesen. Leider ist die Verwicklung, die sich aus se Mit¬
Lebe diesem Motiv ergiebt, ihrerseits schlecht geknüpft und noch schlechter
theil gelöst — dentsch hätte man so etwas einem deutschen Publikum
nicht bieten dürfen. Den Fremden gegenüber, die das Unzu¬
längliche in ganz konventioneller Darstellung brachten, kleidete
sich die Ablehnung in einen matten Höflichkeitsapplaus. Später
wußte Frau Wiehe für ihre Spezialität Theilnahme zu erwecken,
sogar in einer Sprechrolle, freilich in einer solchen, in der sie reden
durfte, wie — eine Tänzerin. Sie gab die Louife in Schnitzlers
zeistsprühendem „Abschiedssouper“ („Souper d’Adieux“) und brachte
eine Auffassung, die zwar nicht das Beste aus dem Stücke heraus¬
holte, aber offenbar ihr Bestes bot. Von dem kräftigen, volks¬
thümlich angelegten Humor und von der unbewußt satirischen Wir¬
kung, die die Sandrock in die Rolle legt, war kein Hauch zu ver¬
spüren. Aber die Minauderien der Cocotte, das Sprunghafte und ?
Fahrige des Wesens, das Flattern der kurzdenklichen Rede —
der Flitterreiz naiven Raffinements, das wie angeboren

wirkt
das nur, auch nur das war mit Pikanterie
und einem Auflug von Komik dargestellt. Das Gefällige
lag mehr in den Bewegungen als in den Worten. Im
ganzen war das feine Stückchen des deutschen Autors, das
französich gespielt
viel französischer ist, als es diesmal
wurde, kaum wiederzuerkennen. Aus dem decadenten Träumer?
war ein sehr gewöhnlicher Liebhaber geworden, und der
Geist trocknete in der Nüchternheit der Sprechweise ein.
Ihre eigentliche Virtuosität bethätigte Frau Wiehe in zwei
Pautomimen, in der mit den gröbsten Effekten spielenden
Einbruchsgeschichte: „Die Hand“, die hier zu Lande längst
bekannt ist, und in dem höchst armseligen Mimodrama
beide von Berény. Die letzter¬
„L’homme aux poupées“ —
wähnte Tanzgeschichte ist eine
starke Zumuthung aus Publikum:
Ein Dichter will sich an
Widersinn ohne Märchenglanz.
— seine
Puppen, die er zu hypnotisiren versucht, begeistern
Frau spielt eine Puppe, um ihn zum Ziele zu bringen.
Poeten, dem nichts ein¬
Die tragische Geschichte vom
fällt, kann nicht langweiliger
vorgetragen, aber freilich
auch nicht stärker beglaubigt werden. Frau Wiehe glänzte in der
ersten Pantomime und rettete die zweite durch äußerliche, aber ge¬
fällige Künste, die nicht von gewöhnlicher Art sind. Ohne das
Stärkste in den Gesten zu sagen, gewinnt sie durch eine graziöse
Gliedersprache und ein verheißungsvolles Lächeln, die nie ins Ge¬
meine fallen, durch kleine Scherze der Mimik und durch den Sinn
für wirksame Kontraste. In der „Hand“ war der Uebergang von
dem erotischen Tanz, an dem sich die Diva selbstgefällig berauscht,
zum Schrecken, der aus der reizenden Selbsttänschung plötzlich die ur¬
sprünglichen Instinkte hervorbrechen läßt, packend gegeben. In dem
zweiten „Mimodrama“ werden zweierlei bekannte Wirkungen: die
der Puppenfee und der allmählichen Belebung eines Bildwerks
kombinirt: nach beiden Seiten hin war hier Frau Wiehe technisch
vorzüglich, musterhaft in den automatischen Bewegungen, fein
in der Art, wie sich das Leben aus den Fesseln löste. Eine
starte Natur ist diese neueste. Virtnosin nicht; aber immerhin
eine Spezialität in ihren Kleinkünsten, eine nicht bedeutende
Sehenswürdigkeit, die den Augenblickseindruck nicht verfehlt. Dieser
Eindruck wurde durch starken Beifall nach den glücklichsten
Momenten bezeugt. A. K.