II, Theaterstücke 4, (Anatol, 5), Abschiedssouper, Seite 103

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sich auch als Sprecherin zeigte, während sie in den anderen beiden
Stücken „Die Hand“ und „Der Mann mit den Puppen“.
von Bereny nur pantomimisch thätig ist. Soweit bei der
Gattung des „Mimodrama“ überhaupt von Natürlichkeit die
Rede sein kann, das heißt soweit sich Empfindung und
Ausdruck bei der auf starke Unterstreichungen bisweilen ange¬
wiesenen Pantomime decken können, ist Charlotte Wiehe natur¬
lich. Jedenfalls hat mich der — unverkennbare — Einschlag
von Virtuosenthum in ihrem Spiel nicht gestört, weil er nie¬
aufdringlich wird, wie überhaupt feiner künstlerischer Takt
durchweg ihr Spiel charakterisirt. Ich glaube nicht, daß der
Umfang ihrer Ausdrucksmittel eben sehr groß ist, und
daß sie tiefer, erschütternder Wirkungen fähig ist, so
packend sie auch den Uebergang von heiterer Daseinsfreude zu
tödlicher Verzweiflung in dem ersten der beiden Mimodramen
darstellte. Wo es sich aber um Schelmerei und Grazie handelt,
da muß sie Jeden unmittelbar gefangen nehmen. Alles an
ihr ist graziös — wir bedürfen des Fremdworts in diesem
Falle —, vor Allem sieht man selten so graziöse Bewegungen
der Arme und Hände, wie sie sie z. B. in dem Tanze des
ersten Dramas hatte. Dann hat sie ein allerliebstes,
keckes Augenzwinkern, was besonders reizend in dem zweiten
übri¬
Mimodrama zur Geltung kam. In diesem
gens mehr als kindlichen bereits die Grenze des Läppi¬
schen streifenden
— Stück hat sie eine Puppe darzustellen,
die allmälig zum Leben erwacht, d. h. keine wirkliche Puppe,
sondern eine liebende Dichtersgattin, die diese Rolle spielt,
weil ihr Herr Gemahl sich nur von Puppen inspiriren lassen
kann und sie stark vernachlässigt. Sie kleidet sich also wie
seine Lieblingspuppe und läßt sich in einer großen Kiste
ihm ins Haus tragen. Ihr Vorhaben gelingt, weil der Dichter
gerade in einer Art hypnotischen Dusels ist, in dem er die
Lieblingspuppe durch magnetische Striche versucht hat
lebendig zu machen, und nun glaubt, sein Werk sei
gelungen. Man sieht, der alte Trick ist hier mit wenig Ge¬
schick verwerthet worden. Aber man vergiebt dem Verfasser,
wenn man sieht, mit wie entzückendem Liebreiz Charlotte
Wiehe das Erwachen der Puppe darstellt. Erstaunlich, wie
puppenstarr ihre Züge bleiben, eine Starrheit, die um so
stärker wirkt, weil sie in unbeobachteten Augenblicken ihrer
angeboren Lustigkeit freien Lauf läßt und um so beweglicher
in ihren Zügen und Bewegungen die Freude an dem ge¬
lungenen Streiche ausdrückt. Dieser Wechsel in dem aus¬
drucksreichen Gesicht ist ganz allerliebst. Höchst anmuthig sind
auch die steifen Bewegungen der Arme und des ganzen Körpers,
wenn die Puppe scheinbar lebendig wird, und wenn sie dann
wieder zur Unbeweglichkeit erstarrt und steif zu Boden zu
fallen droht.
Am meisten gespannt war man natürlich auf ihre Annie
im „Abschiedssouper“
Wir haben in dieser Rolle die
Sandrock und die Niese in Berlin gesehen. Jene war in
keiner Bewegung echt, immer nur die Virtnosin, die zeigen
möchte, wie verschiedenartige Rollen sie darstellen kann; Hansi
Niese aber war etwas gar zu volksthümlich und derb. Man
darf doch nie vergessen, wer dieser Anatol ist — ein Lebe¬
mann, für den die Frauen nichts sind als ein Mittel, ein
paar Stunden dieses langweiligen Lebens angenehm
zu verkürzen, jede auf ihre Weise, keine aber
so,
daß sein ästhetisches
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Gefühl verletzt wird.
Diese Annie muß ein orollig=freches Geschöpfchen sein, von
einer naiven Sündhaftigkeit, die immer liebenswürdig bleibt,
ein Persönchen, über die man lachend den Kopf schütteln kann,
die aber nie abstoßend werden kann. Mit einer Annie im
Stile der Sandrock würde Anatol kein einziges Souper aus¬
halten und mit einer Annie, wie sie die Niese gab, sicherlich
nicht länger als ein paar Stunden zusammenbleiben. Char¬
lotte Wiehe aber stellte dieses drollige Mädchen vom Ballet
ungefähr so dar, wie man sie sich denkt. Mag hier und da
ein Zug zur Wienerin nicht stimmen, — die Hauptsache, die
Liebenswurdigkeit, war da. Uebrigens war die Uebersetzung
ausdrücklich als „adaptation“ bezeichnet.
Frau Wiehe ward schon nach dem ersten Stück mit Beifall
überschüttet, am Schluß aber gesellten sich auch riesige Blumen¬
körbe dazu, — man konnte glauben, im Thalia=Theater oder
in einer Kleinstadt zu sein.
Herr Severin=Mars, der Partner der Wiehe, zeigte
im ersten Stück ein großes mimisches Können, im zweiten war
er gar zu äußerlich, bewies aber auch da sich als vortrefflicher
Mimiker. Was der Zettel Alles an unverständlichem Zeug
über ihn erzählte, hätte sich der Impresario für Gastspiele in
kleinen Provinzstädten sparen sollen: Berlin will sich sein
Urtheil immer „elbst bilden und hat eine instinktive Abneigung
gegen die Empfehlungen von anderer Seite.
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4. 5. Abschiedssouper
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Alex. Weigl’s Internehmen für Zeitungs-Ausschnitte
Ausschnitt
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Nr. 72
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Ausschnitt aus:
Vorwärts, erlin
sogr. 7¾/9 /904.
Theater.
Lessing=Theater. Charlotte Wiehe. — Fast noch
fleißiger wie sonst, wenn irgend eine ausländische Berühmtheit ihr
Kommen zugesagt, war diesmal die Trommel der Reklame für die
dänische Pantomimin geschlagen worden. Und trotzdem überbot sie
die Erwartungen. Es scheint kein weites Gebiet, über das sie
herrscht ihre Verwandlungsfähigkeit mag in verhältnismäßig
enggesteckte Grenzen gebannt sein, aber innerhalb derselben
da ist sie wirklich Herrin, da giebt es keine noch so versteckte Nuance
seelisch=körperlicher Empfindungen, für die sie nicht mit wahrhaft ver¬
blüffendem Instinkte den unmittelbar packenden Ausdruck fände. So
beredt sind die Bewegungen der Arme, die Windungen des Körpers,
das Auf und Ab des stummen Minenspiels, daß die
Sprache hier wirklich als ein Ueberflüssiges erscheint. So
wie sie auftritt, stellt sich Illusion und Spannung wie mit einem inclusive
Zauberschlage ein, die flache, phantasielose und gekünstelte Unnatur Porto.
der Mimodramen — armselige Instrumente, auf denen sie spielt — Zahlbar
ist auf einmal vergessen.
n Voraus.
Ihre Tänzerin Vivette in dem Berenyschen Mimodrama „Die
Hand“ war im kleinsten Rahmen eine Charakterschöpfung großente ist das
Stils. Ob die etwas spitzen, markanten Züge des blassen, gar nicht eht es den
mehr jugendlichen Gesichtes hübsch sind, darüber ließe sich streiten, lern.
Aber die Bewegung leiht ihnen eine sieghafte und verführerische Ge¬
walt. Keine der vielen Schilderungen perverser weiblicher Kokeiterie naltend die
in den Pariser Romanen kann sich mit dem lebendigen Bilde dieses Morgen¬
Typus, das die Wiehe als Tänzerin hier in rascher Folge entrollt,r Zeitung")
an Farbenreichtum und anschaulicher Ueberzeugungskraft messen. In aschaftliche
dem katzenartig boshaften Spiele mit dem Liebhaber, in dem ge¬ Diese Mit¬
schmeidigen Abstoßen und Anziehen, in dem triumphierenden Tanze,
in dem sie einsam, nachdem sie den Baron auf die Straße hinab¬
geschickt, ihre Schönheit lachend und berauscht genießt, in den
weichen schlaugenhaften Bewegungen der Arme, in den rasch auf¬
flackernden und verlöschenden Grimassen spöttisch=gemeiner Frechheit
enthüllte, still und lantlos, sich die Seele bis in dunkelsten Tiefen:
Natur, die sich im innersten zur Unnatur, zu raffiniertester, Verderben
drohender Genußsucht verkehrt hat. Aus dem sinnlichen Feuer selbst
wehte ein Hauch eisiger Kälte. Packend war auch der Uebergang zu
Pratlosem Entsetzen, die animalische Angst, die das zierliche Wesen mit
den scharf geschliffenen Krallen befällt, als sie hinter dem Vorhang
plötzlich eine fremde Hand, die Hand des Einbrechers sieht. Natür¬
lich erscheint im rechten Augenblicke, grade als der Dieb der ohn¬
mächtig Zusammengebrochenen die Ringe von den Fingern reißen will,
der abgewiesene Liebhaber als Retter aus der Ner Der Dieb — ein
echter Pantomimeneinfall! — ist von der Schönheit Vivettes so bezaubert,
daß er, den Schmuck rasch wegwerfend, mit einer Rose, die die
Tänzerin an ihre Brust gedrückt hatte, sich fortmacht! Der wackere
Liebhaber aber darf bleiben.
Die zweite Puntomime: „Der Puppenmann“, stellt, was¬
Komposition und Handlung anlangt, noch größere Ansprüche an die
FGutwilligkeit des Zuschauers als der bekehrte Einbrecher der ersten.
Herr Séverin=Mars, der, wie es im Theaterzettel heißt, „ein Schauspieler
von hoher Begabung ist und die stummen Rollen in schauspielerischer
Auffassung spielt“, tragiert hier einen Poeten. Er fährt mit seinen
Fingern lange über die Stirn hin und her, zum Zeichen, daß er
er von dorther allerhand Gedanken heranzulocken trachtet. Vergebens!
Die Ideen wollen keine Gestalt annehmen. Um nachzuhelfen holt
er aus einer Kiste ein Paar veritable Puppen hervor. Diese Puppen
bedeuten — der Theaterzettel ist Zeuge — „seine Ideale, denen er,
vermöge seiner eingebildeten magischen Kräfte, Geist und Seele
einhauchen zu können glaubt". Es ist tiefergreifend, mitanzusehen,
wie sich der aime Mann mit den bunten Dingern abquält. Endlich
schlummert er ein und nun schleicht die Geliebte, die schon lange
eifersüchtigen Groll auf all das Puppenvolk hegt, herbei. Um die
Konkurrenz zu schlagen, will sie ihm selbst als Puppe er¬
scheinen. Die folgenden Seenen erinnern an eine japanische
Pantomime, in der die Sada Yako im vorigen Winter auftrat.
Sie war da eine Statnette, die, ähnlich wie in der Pygmalionsage,
durch die Liebe des Künstlers beseelt, aus dem Nahmen sich ablöst, lang¬