Natur, die sich im innersten zur Unnatur, zu raffiniertester, Verderben
drohender Genußsucht verkehrt hat. Aus dem sinnlichen Feuer selbst
wehle ein Hauch eisiger Kälte. Packend war auch der Uebergang zu
ratlosem Entsetzen, die animalische Angst, die das zierliche Wesen mit
den scharf geschliffenen Krallen befällt, als sie hinter dem Vorhang
plötzlich eine fremde Hand, die Hand des Einbrechers sieht. Natür¬
lich erscheint im rechten Augenblicke, grade als der Dieb der ohn¬
mächtig Zusammengebrochenen die Ringe von den Fingern reißen will,
der abgewiesene Liebhaber als Retter aus der Not. Der Dieb — ein
echter Paniomimeneinfall! — ist von der Schönheit Vivettes so bezaubert,
daß er, den Schmuck rasch wegwerfend, mit einer Rose, die die
Tänzerin an ihre Brust gedrückt hatte, sich fortmacht! Der wackere
Liebhaber aber darf bleiben.
Die zweite Pantomime: „Der Puppenmann“, stellt, was
Komposition und Handlung anlangt, noch größere Ansprüche an die
FGutwilligkeit des Zuschauers als der bekehrte Einbrecher der ersten.
Herr Séverin=Mars, der, wie es im Theaterzettel heißt, „ein Schauspieler
von hoher Begabung ist und die stummen Rollen in schauspielerischer
Auffassung spielt“, tragiert hier einen Poeten. Er fährt mit seinen
Fingern lange über die Stirn hin und her, zum Zeichen, daß er
ber von dorther allerhand Gedanken heranzulocken trachtet. Vergebens!
Die Ideen wollen keine Gestalt annehmen. Um nachzuhelfen holt
er aus einer Kiste ein Paar veritable Puppen hervor. Diese Puppen
bedeuten — der Theaterzettel ist Zeuge — „seine Ideale, denen er,
vermöge seiner eingebildeten magischen Kräfte, Geist und Seele
einhauchen zu können glaubt“.
Es ist tiefergreifend, mitanzusehen,
wie sich der arme Mann mit den bunten Dingern abquält. Endlich
schlummert er ein und nun schleicht die Geliebte, die schon lange
eifersüchtigen Groll auf all das Puppenvolk hegt, herbei. Um die
Konkurrenz zu
schlagen, will sie ihm selbst als Puppe er¬
scheinen. Die folgenden Seenen erinnern an eine japanische
Pantomime, in der die Sada Yako im vorigen Winter auftrat.
Sie war da eine Statnette, die, ähnlich wie in der Pygmalionsage,
durch die Liebe des Künstlers beseelt, aus dem Rahmen sich ablöst, lang¬
sam Fum Leben erwacht und dann wieder in leblose Erstarrung
zurückfällt. Vielleicht, daß der Erfolg der reizenden Japanerin in
der alten, wirklich phantasievollen Pantomime, Frau Wiehe zuerst
den Wunsch erregt hat, ihre Kunst in ähnlichen Seenen zu versuchen
und daß dann daraufhin dies so arg prosaisch anhebende „Mimo¬
drama“ gedichtet wurde. Für den Pocten ist sie schließlich nicht ver¬
antwortlich, sie selbst aber braucht den Vergleich nicht zu scheuen. Ihre
blonde Puppe gehört ihr wirklich ganz und gar als eigen zu.
Es ist dasselbe Thema, aber in völlig selbständiger, ganz person¬
licher Variation. Auch die Yako betonte das ruckweise, drollige in
der Verwandlung, aber jedoch ihrer Drolligkeit haftete noch immer
etwas gemessen Feierliches an. Charlotte Wiehe ist in dieser Rolle
ganz Ausgelassenheit. Dort war es wirklich eine Statue, hier wirk¬
lich eine Puppe, die man lebendig werden sah. In einem Kasten
wird sie zu dem nach immer neuen Puppen trachtenden Poeten
herangeschleppt. Und unter seinen früher stets vergeblichen Be¬
schwörungsformeln, beginnen Arme und Finger der großen
Menschenpuppe dann zu schlenkern und zu schnappen; es ist
ein Spiel, in dem Anmut und Eckigkeit aufs reizvollste
sich einen. Dem glücklichen Poeten fallen im Arme dieses Puppen¬
wesens natürlich gleich die allerschönsten Verse ein. Und komischer noch
als das Erwachen ist dann die Rückverwandlung in das Puppentum.
Der Poet, der für die Drolerie nur wenig Sinn beweist, will sich gerade
aus Verzweiflung den Puls durchschneiden, da wirft sie die Ver¬
kleidung ab und fliegt ihm als Geliebte an den Hals. Auch in
dieser Pantomime ist es im Grunde wieder der Triumph weiblicher
Koketterie, den die Wiehe darstellt, die Augen blitzen ihr von heim¬
licher Durchtriebenheit, von Lust über die Sreiche, mit denen sie den
thörichten Mann besiegt, aber es ist hier die liebenswürdige, die aus
der Liebe selbst geborene Koketterie.
Als Mittelstück zwischen die beiden Mimodramen war Schnitzl.=s
fein pointiertes „Abschiedssouper“ eingeschoben. So amüsant
und fein die Wiehe die Rolle der Annie spielte, erreichte sie in der
gesprochenen Komödie doch nicht, wie mir schien, denselben Eindruck
des Selbstverständlichen, des Nicht=anders=sein=Könnens, wie in den
beiden Pantomimen. Das Wiener Mädel, das ihrem Anatol den
Laufpaß giebt, wird sich Schnitzler sicher bedeutend einfacher und
harmloser gedacht haben. Die Wiehe brachte zuviel von ihrer
Vivette in diese Rolle mit, zuviel Raffinement und Spitzigkeit.
Schon die glänzende Toilette störte. Wie soll man, so gekleidet,
solchen urgesunden Hunger haben, wie die Annie?
dt.
box 8/2
4.5. Abschiedssouper
an
5
„ rde. Man soute meinen.
serlicher als der Kaiser selbst brauchte man weder in
A. K.
emen zu sein noch anderswo!
Im Thalia=Theater ging heute Abend eine
Possen=Novität unter dem Titel: „Er und seine Schwester“
in Szene und errang einen vollen Heiterkeitserfolg. Der
Autor, Bernhard Buchbinder, ist ein Wiener Schrift¬
steller, der eine Anzahl Bühnenwerke verfaßt hat, von denen
vor etwa acht Jahren am Altonaer Stadt=Theater ein lusti¬
ger Schwank „Husarenliebe“ zur Aufführung gelangte und
auch beifällig ausgenommen wurde. Das neueste Opus,
das übrigens in Wien und Berlin schon die Feuerprobe be¬
standen, ist zwar nach altem Rezept gebraut, aber recht
amüsant, und mehr darf man von einer Posse nicht ver¬
langen. Einige weitere Bemerkungen sparen wir uns für
morgen auf; einstweilen sei nur konjtat rt, daß sehr flott
gespielt wurde und daß Frl. Kramm und Herr Frank
wesentlich zu dem Erfolge beigetragen haben.
Im Deutschen Schauspielhause wurde heute Abend
zum ersten Mal Ibsen's „Hedda Gabler“ aufgeführt.
Das interessante Werk, das in München bereits vor mehr
als zehn Jahren seine deutsche Urpremière erlebte, fand beim
hiesigen Publikum eine sehr freundliche Aufnahme, wenn auch
einzelne Szenen stark befremdeten. Die Aufführung unter der
Regie des ausgezeichneten Ibsenkenners, Herrn Dr. Karl
Heine war durchweg vorzüglich. Die Rolle der Hedda lag
in den Händen von Frl. Hönigsvald. Frl. Elsinger
spielte die Rea, Frau Schlüter die Tante Jule. Tesman,
Lövborg und Brack fanden in den Herren Biensfeld,
Nhil und Burg ihre Verkörperung. Wir werden morgen
näher auf Stück und Darstellung eingehen.
Ukr. Berliner Schauspiel. Aus Berlin,
Ztember, wird uns geschrieben: Eine sehr reizen
ne
hellblonde Frau, Dänin von Geburt,
Künstlers, und total französirt, ha
950
Lessingtheater verirrt. Frau Chai
dort wollte, war nicht recht ersichtlich
s= od
zu erregen, hätte sie ebenso gut in einer Prosce
Orchesterloge Platz nehmen können,
Damen der Theater= und Berliner Lebewelt, Sicherlich hätten
drohender Genußsucht verkehrt hat. Aus dem sinnlichen Feuer selbst
wehle ein Hauch eisiger Kälte. Packend war auch der Uebergang zu
ratlosem Entsetzen, die animalische Angst, die das zierliche Wesen mit
den scharf geschliffenen Krallen befällt, als sie hinter dem Vorhang
plötzlich eine fremde Hand, die Hand des Einbrechers sieht. Natür¬
lich erscheint im rechten Augenblicke, grade als der Dieb der ohn¬
mächtig Zusammengebrochenen die Ringe von den Fingern reißen will,
der abgewiesene Liebhaber als Retter aus der Not. Der Dieb — ein
echter Paniomimeneinfall! — ist von der Schönheit Vivettes so bezaubert,
daß er, den Schmuck rasch wegwerfend, mit einer Rose, die die
Tänzerin an ihre Brust gedrückt hatte, sich fortmacht! Der wackere
Liebhaber aber darf bleiben.
Die zweite Pantomime: „Der Puppenmann“, stellt, was
Komposition und Handlung anlangt, noch größere Ansprüche an die
FGutwilligkeit des Zuschauers als der bekehrte Einbrecher der ersten.
Herr Séverin=Mars, der, wie es im Theaterzettel heißt, „ein Schauspieler
von hoher Begabung ist und die stummen Rollen in schauspielerischer
Auffassung spielt“, tragiert hier einen Poeten. Er fährt mit seinen
Fingern lange über die Stirn hin und her, zum Zeichen, daß er
ber von dorther allerhand Gedanken heranzulocken trachtet. Vergebens!
Die Ideen wollen keine Gestalt annehmen. Um nachzuhelfen holt
er aus einer Kiste ein Paar veritable Puppen hervor. Diese Puppen
bedeuten — der Theaterzettel ist Zeuge — „seine Ideale, denen er,
vermöge seiner eingebildeten magischen Kräfte, Geist und Seele
einhauchen zu können glaubt“.
Es ist tiefergreifend, mitanzusehen,
wie sich der arme Mann mit den bunten Dingern abquält. Endlich
schlummert er ein und nun schleicht die Geliebte, die schon lange
eifersüchtigen Groll auf all das Puppenvolk hegt, herbei. Um die
Konkurrenz zu
schlagen, will sie ihm selbst als Puppe er¬
scheinen. Die folgenden Seenen erinnern an eine japanische
Pantomime, in der die Sada Yako im vorigen Winter auftrat.
Sie war da eine Statnette, die, ähnlich wie in der Pygmalionsage,
durch die Liebe des Künstlers beseelt, aus dem Rahmen sich ablöst, lang¬
sam Fum Leben erwacht und dann wieder in leblose Erstarrung
zurückfällt. Vielleicht, daß der Erfolg der reizenden Japanerin in
der alten, wirklich phantasievollen Pantomime, Frau Wiehe zuerst
den Wunsch erregt hat, ihre Kunst in ähnlichen Seenen zu versuchen
und daß dann daraufhin dies so arg prosaisch anhebende „Mimo¬
drama“ gedichtet wurde. Für den Pocten ist sie schließlich nicht ver¬
antwortlich, sie selbst aber braucht den Vergleich nicht zu scheuen. Ihre
blonde Puppe gehört ihr wirklich ganz und gar als eigen zu.
Es ist dasselbe Thema, aber in völlig selbständiger, ganz person¬
licher Variation. Auch die Yako betonte das ruckweise, drollige in
der Verwandlung, aber jedoch ihrer Drolligkeit haftete noch immer
etwas gemessen Feierliches an. Charlotte Wiehe ist in dieser Rolle
ganz Ausgelassenheit. Dort war es wirklich eine Statue, hier wirk¬
lich eine Puppe, die man lebendig werden sah. In einem Kasten
wird sie zu dem nach immer neuen Puppen trachtenden Poeten
herangeschleppt. Und unter seinen früher stets vergeblichen Be¬
schwörungsformeln, beginnen Arme und Finger der großen
Menschenpuppe dann zu schlenkern und zu schnappen; es ist
ein Spiel, in dem Anmut und Eckigkeit aufs reizvollste
sich einen. Dem glücklichen Poeten fallen im Arme dieses Puppen¬
wesens natürlich gleich die allerschönsten Verse ein. Und komischer noch
als das Erwachen ist dann die Rückverwandlung in das Puppentum.
Der Poet, der für die Drolerie nur wenig Sinn beweist, will sich gerade
aus Verzweiflung den Puls durchschneiden, da wirft sie die Ver¬
kleidung ab und fliegt ihm als Geliebte an den Hals. Auch in
dieser Pantomime ist es im Grunde wieder der Triumph weiblicher
Koketterie, den die Wiehe darstellt, die Augen blitzen ihr von heim¬
licher Durchtriebenheit, von Lust über die Sreiche, mit denen sie den
thörichten Mann besiegt, aber es ist hier die liebenswürdige, die aus
der Liebe selbst geborene Koketterie.
Als Mittelstück zwischen die beiden Mimodramen war Schnitzl.=s
fein pointiertes „Abschiedssouper“ eingeschoben. So amüsant
und fein die Wiehe die Rolle der Annie spielte, erreichte sie in der
gesprochenen Komödie doch nicht, wie mir schien, denselben Eindruck
des Selbstverständlichen, des Nicht=anders=sein=Könnens, wie in den
beiden Pantomimen. Das Wiener Mädel, das ihrem Anatol den
Laufpaß giebt, wird sich Schnitzler sicher bedeutend einfacher und
harmloser gedacht haben. Die Wiehe brachte zuviel von ihrer
Vivette in diese Rolle mit, zuviel Raffinement und Spitzigkeit.
Schon die glänzende Toilette störte. Wie soll man, so gekleidet,
solchen urgesunden Hunger haben, wie die Annie?
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serlicher als der Kaiser selbst brauchte man weder in
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emen zu sein noch anderswo!
Im Thalia=Theater ging heute Abend eine
Possen=Novität unter dem Titel: „Er und seine Schwester“
in Szene und errang einen vollen Heiterkeitserfolg. Der
Autor, Bernhard Buchbinder, ist ein Wiener Schrift¬
steller, der eine Anzahl Bühnenwerke verfaßt hat, von denen
vor etwa acht Jahren am Altonaer Stadt=Theater ein lusti¬
ger Schwank „Husarenliebe“ zur Aufführung gelangte und
auch beifällig ausgenommen wurde. Das neueste Opus,
das übrigens in Wien und Berlin schon die Feuerprobe be¬
standen, ist zwar nach altem Rezept gebraut, aber recht
amüsant, und mehr darf man von einer Posse nicht ver¬
langen. Einige weitere Bemerkungen sparen wir uns für
morgen auf; einstweilen sei nur konjtat rt, daß sehr flott
gespielt wurde und daß Frl. Kramm und Herr Frank
wesentlich zu dem Erfolge beigetragen haben.
Im Deutschen Schauspielhause wurde heute Abend
zum ersten Mal Ibsen's „Hedda Gabler“ aufgeführt.
Das interessante Werk, das in München bereits vor mehr
als zehn Jahren seine deutsche Urpremière erlebte, fand beim
hiesigen Publikum eine sehr freundliche Aufnahme, wenn auch
einzelne Szenen stark befremdeten. Die Aufführung unter der
Regie des ausgezeichneten Ibsenkenners, Herrn Dr. Karl
Heine war durchweg vorzüglich. Die Rolle der Hedda lag
in den Händen von Frl. Hönigsvald. Frl. Elsinger
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Lövborg und Brack fanden in den Herren Biensfeld,
Nhil und Burg ihre Verkörperung. Wir werden morgen
näher auf Stück und Darstellung eingehen.
Ukr. Berliner Schauspiel. Aus Berlin,
Ztember, wird uns geschrieben: Eine sehr reizen
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hellblonde Frau, Dänin von Geburt,
Künstlers, und total französirt, ha
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Lessingtheater verirrt. Frau Chai
dort wollte, war nicht recht ersichtlich
s= od
zu erregen, hätte sie ebenso gut in einer Prosce
Orchesterloge Platz nehmen können,
Damen der Theater= und Berliner Lebewelt, Sicherlich hätten