II, Theaterstücke 4, (Anatol, 5), Abschiedssouper, Seite 106

4. 5. Abschiedssouber
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Hy Cheater und Musik.
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Auf den Brettern des Lessingtheaters, die,
sollte man meinen, noch unter den wehen Tritten des
Gorkischen Barfüßer“ erschauern, produziert sich jetzt eine
dänische Artistin, Charlotte Wiehe: Mimin, Dan¬
seuse Chansonette und Actrice in einer Person. Man sieht,
ich bin galant, ich gebrauche absichtlich für diese exquisiten
Künste einer internationalen Größe — Charlotte Wiehe ist
in Kopenhagen geboren, hat sich aber mit einer Pariser
Truppe assoziert und spielt nur in französischer Sprache —
keine plumpen deutschen Ausdrücke. Schon um den neuen
Riccaut de la Marlinière unserer „arm Sprak“, Herrn
Georg Brandes, nicht zu verletzen, der in so chevaleresker
Weise den litterarischen Impresario der Dame gemacht hat.
„Paris und London haben ihren Erfolg bestätigt,“ heißt es
in dem Brandesschen Reklamebrief, „es fehlt ihr nur noch
der Beifall Berlins. Wenn nur das Publikum nicht durch
Intriguen gegen sie eingenommen ist, wird sie gewiß in
Berlin wie in Paris gefallen.“ Was doch fremde Leute
um den guten Ruf unseres Kunstverständnisses besorgt sind!
Daß du dich nur ja nicht blamierst, Berlin! daß du dir
nur ja nicht vor all den hohen Herrschaften, die Madam¬
Wiehe ihre hohe Kunst testiert haben, vor dem König von
Griechenland, dem Kronprinzen von Dänemark, dem Gro߬
fürsten Michailowitsch von Rußland, den Prinzessinnen
Maud, Luise und Thyra eine Blöße gibst! Nun, unser
dänischer Tugendwächter darf sich ruhig schlafen legen: tout¬
Berlin hat sich des Vertrauens würdig erwiesen. Es über¬
schüttete die blonde Dänin und ihre armselige Truppe mit
Beifall und Blumen und wies die unverschämten „Intri¬
guanten“, die sich zu pfeifen unterstanden, mit flammender
Entrüstung in die Schranken der Inferiorität zurück.
Ich habe in der Würdigung artistischer Spezialitäten¬
künste keine Uebung und muß deshalb im Voraus um
gnädige Nachsicht bitten, wenn ich nicht überall die tech¬
nischen Ausdrücke treffe und mich dieser kurzgeschürzten Muse
gegenüber vielleicht allzu kurz fasse. Ueber den Einleitungs¬
akt, eine alberne Nichtigkeit eines Herrn Henri Jean,
„Lenoeudde cravate“ betitelt, gehe ich hinweg;
es wird über diesen „Krawattenknoten“ schon im Stücke selbst
viel zu viel geschwatzt und zudem bringt es die Heldin des
Abends noch gar nicht auf die Bühne. Zola hat uns ein¬
mal verraten, daß gewisse Pariser Damen, die über ihre
Schönheitsblüte hinweg sind, sich für einige Stunden des
Tages eine ausgesucht häßliche Freundin mieten, um an
deren Arm auf dem Boulevard zu promenieren; es sei das
das sicherste Schönheitsmittel, das je in Paris erfunden.
Madame Wiehe gebührt der Ruhm, diesen Tric auf die
Kunst übertragen zu haben: nach dem „Noeud de cravate“
und denen, die ihn agieren, erscheint das darauf folgende
Mimodrama „La main“ fast wie ein kleines Kunstwerk.
Diese mit einem gewissen Charme zurechtgemachte,
von einer schmiegsamen, farbenreichen Musik begleitete
Anekdote von einem Einbrecher, der eine nächtlich heimkeh¬
rende Balleteuse durch seine geisterhaft aus der Gardine
hervorlugende Hand erschreckt, dann aber von dem herbei¬
eilenden Liebhaber, noch mehr von der Schönheit der Tän¬
zerin entwaffnet und mit einer Rose als einziger Beute
heimgeschickt wird, ist in Berlin durch das Spiel der Prasch,
der Odillon u. a. zur Genüge bekannt. Der schlanke Glie¬
derbau der Dänin findet hier Gelegenheit, all seine ver¬
führerischen Reize und pantomimischen Kunststückchen spielen
zu lassen; sie verfügt über eine wunderbare Wandlungs¬
fähigkeit im Gesichtsausdruck, weiß in der That lähmenden
Schrecken und heiterste Fröhlichkeit mit geschmeidiger Grazie
in einander zu schlingen und die einzelnen Stadien der sich
jagenden Gefühle geistreich zu beleben. Neben ihr verdarb
die sonst so wirkungsvolle Rolle des durch Frauenreiz ge¬
bändigten Einbrechers Herr Séverin=Mars durch allzu auf¬
dringliche, „sprechende" Gesten. Es folgte das Schnitz¬
lersche „Abschiedssouper“, das aber in der
französischen „Adaption“ mit seiner Wiener Ortsfarbe auch
all seinen Wiener Zauber, diese Mischung von Liebens¬
würdigkeit und zynischer Schwermut, eingebüßt hat. Aus
dem Wiener Madl, das uns einst Hansi Niese mit ihrer
lieben Natur so entzückend verkörperte, ist eine Dame von
Maxim geworden, die mit all ihrer Pikanterie und Eleganz
den süßen, wenn auch wurmstichigen Reiz des Originals
nicht ersetzen kann. Den Gipfel des Abends bildete das
Marionettenstück „L’homme aux poupées“, wie „Die
Hand“ von Bérény, dem Gatten Charlotte Wiehes, der
diese
wie jenes ihr offenbar „auf den Leib geschrieben“
hat. Ein Dichter verliebt sich in seine „Ideale“, hübsch
angezogene Gliederpuppen, die er durch seine hypnotischen
Künste lebendig zu machen sucht! Seine eifersüchtige Gattin
spielt ihm den Streich, ihm als täuschend verkleidete Puppe
zu erscheinen, und heilt ihn so von seinem verrückten Wahn.
Ein Stück, das einem Apollotheater oder Wintergarten Ehre
machen, dem man aber schon auf einem Ueberbrettl nicht
ohne Naserümpfen begegnen würde. Daß eine hübsche Frau,
wie diese Dänin es ist, eine Puppe nicht bloß scheinen, son¬
dern auch sein kann, daran haben wir ja wohl auch früher
schon, vor ihrem Gastspiel, nicht gezweifelt. Immerhin —
wie Berlin diese neuste Puppe in Empfang nahm, darin
liegt das Große und Bleibende dieses Gastspiels: ein
Hundsfott, der nun noch behaupten wollte, es stünde in
seinem künstlerischen Geschmack hinter Paris oder London
F. D.
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