II, Theaterstücke 4, (Anatol, 5), Abschiedssouper, Seite 110



eine Puppe und schenumgekehrt beiverschiedenen Gelegen¬
heiten als „Kunststückchen“ mehr oder weniger gut aus¬
führen gesehen. Aber bei Charlotte Wiehe ist es
die Aeuserung einer harmonisch gefügten Kunst, die das
Liniens il des Körpers zu plastischen; Akkorden ver¬
eint. Das höchste Kunstwerk, der Mensch, erfährt in
diesem Spiel ausdrucksvolle Deutung. Wie ein Geschönf
der Renaissance, dem keine Kunstäußerung fremd ist,
weiß sie ihren geschmeidigen graziösen Körper zum be¬
seelten Instrument seiner Regungen zu machen. Sie zeigte
sich als Mimikerin und Tänzerin in gleicher Vollen¬
dung. Severin Mars, ihr Partner in den erwähnten
Einaktern, ist ein Künstler von Charakterisik und Ge¬
wandtheit. Das Haus zeigte das typische Bild eines
sensationellen Abends. Von den Süen, die gespielt
wurden, ist nicht mehr viel zu sagen. „La main“ ist
eine raffiniert ausgetüftelte Einbrecherszene mit nerven¬
spannendem Detail und theatralischen Schreckens¬
momenten. Die Hand des Cinbrechers, die plötzlich vor
dem Vorhang erscheint, während die Tänzerin vor dem
Spiegel steht, ist der Clou dieses Exzentr kstückchens,
das übrigens in Wien schon wiederholt aufgeführt
wurde. Frau Prasch spielte die Vivette an einem
Volkstheaterabend mit starken dramatischen Alzenten.
Schnitzlers „Abschiedssouper“ übte kößlichste Wir¬
kung und mutete in der französischen Uebrtragung an,
als ob es auf Pariser Boden gewachsen wäre. Der
musikalische Teil des ersten und dritten Stückchens ist von
Henry Verney, dem Gatten der Künstlerin, mit mehr
Geschmatt hergestellt, als der stumme Tet, der viele
theatralische Aufdringlichkeiten enthält. Die Künstlerin
wurde bei jeder Gelegenheit mit stürmischem Beifall
ausgezeichnet.
Ch.
Auf der Pariser Weltausstellung 1900 haben zwei
Schauspielerinnen von sich reden gemacht, die inter¬
essante schlitzäugige Japanerin Sadda Jaco und
die „dänische Pariserin“ Charlotte Wiehe. Bis vor
zwei Jahren war Madame Wiehe, die jetzt als erster
Bühnenstar in Europa gilt, noch ziemlich unbekannt,
obzwar sie sich seit itrer frühesten Jugend bemühte,
ihre Kunst von der Schablone des Alltäglichen
Erst
der Pariser Kritiker
herauszuarbeiten.
Jules Claretie hat sie „lanciert“. Eines Abends
kam er statt in das Theater der Sadda Jaco, in das
des Pierre Wolf, wo Frau Wiehe die ersten Rollen
spielte, sah und war begeistert. Im „Journal“ schrieb
er dann einen glänzenden Artikel über „Lolotte“, die er
nacheinander mit der tändelnden Rejane, der graziösen
Illdie, der düsteren Duse und einem halben Dutzend
anderer Theatergrößen verglich, und alle Vergleiche zu¬
gunsten der „einzigen“ Wiehe ausfallen ließ. Paris, die
Stadt des Lichtes, horchte auf die Stimme seines
Akademikers, und das Glück der schönen Dame war
gemacht. Henryk Ibsen half auch mit, seine Lands¬
männin zu poussieren. Von ihm rührt das glänzend
geistreiche Wort über die Wiehe her: „Getanzte
Psychologie“ — und so ist jetzt „Lolotte“ ein Stern
erster Größe am Himmel aller europäischen Theater.
Charlotte Wiehe ist ein echtes Theaterkind, „geboren auf
den Brettern“. Mit sechs Jahren kam sie in die Opern¬
ballettschule zu Kopenhagen, wo sie sich zur Tän¬
zerin ausbildete. Sechzehn Jahre alt, ging sie dann zum
Soubrettenfach über und erzielte große Erfolge als
Mamsell' Nitouche und Frou=Frou. Stets mit sich un¬
zufrieden, wurde sie da auf einmal ernste Schauspielerin
und spielte tragische Rollen. In den Stücken, die sie in
Wien geben wird, tritt sie als Tänzerin, Sängerin und
Mimikenin auf. So viel steht fest: Charlotte Wiehe ist
als Künstlerin eine Individualität, vielleicht sogar ein
Original in dem Sinne des Wortes, als sie sonst ver¬
schiedene Künste: Gesang, Tanz, Mimik und Schauspiel
zu einer einheitlichen Universitalität vermählt.
4. 5. Abschiedssouper
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Alex. Weigl’'s Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
Ausschnitt
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Ausschnitt aus:
Noues Wiener Journal
vom: #%02
Theater und Kunst.
(Raimund=Theater.) Es ist schon immerhin etwas,
wenn selbst die marktschreierischeste Reclame nicht imstande war,
Frau Charlotte Wiehe um den Erfolg zu bringen. Denn ein
Erfolg war es; kein erschütternder zwar, aber doch ein Erfolg.
Die große Sensation ist ausgeblieben und an ihre Stelle trat
ein amüsanter Eindruck, eine leichte ästhetische Reizung.
Der Ruhm Charlotte Wiehe's hat seinen Ausgangspunkt
von der Budenstadt der Pariser Weltausstellung, genau so
wie der Ruhm Sadda Jacco's, mit der die blonde Däninssive
merkwürdigerweise auch sonst manche Berührungspunkte almeinsto.
hat. Es ist ein Gemisch von Pankomime, Tanz und bar
Schauspielerei, was sie bietet; ein feines Menu, wo die
raus.
Sausen oft besser sind als der Braten. Charlotte Wiehest das
4 ist Dänin, also wie man galant sag, eine Pariserin des es den
4 Nordens. Schlank, aschblond, graziös, ein bißchen frostig,
wie frappirter Champagner, dann prickelnd, lebendig. Man hat sie
nd die
nie ganz. So ist auch ihr Spiel. Im Tanz leicht und über¬
gen¬
I müthig, aber in der leichten Spielerei stärker wirkend als imtung")
„Affect. Das zeigte sich besonders deutlich in dem Mimodrama
iftliche
I. „Die Hand“, dessen Bekanntschaft man in Wien schon gemacht
e Mit¬
that. Die kokette Schelmerei der ahnungslosen Sängerin brachte
sie sehr hübsch: der Uebergang zu den dramatischen Stellen, wenn sie
die Hand des Verbrechers im Spiegel erblickt, ist nicht packend genug.
Ihre Vorzüge konnte sie dann um so besser und reiner in einer
unsäglich albernen „mimischen Erzählung“ wirken lassen. „L'homme
aux Poupées“ heißt das Ding. Charlotte Wiehe steckt sich
in eine Puppenmaske, um den in seine Puppen verliebten Dichters¬
mann zu heilen. Adam, Offenbach und Audran standen zu diesem
Werke Pathe. Die automatische Steifheit und das Zusammen¬
klappen copirte sie vortrefflich; der geschmeidige Reiz ihres Körpers
kam dann im übermüthigen Herumtollen erst recht zur
Geltung. Und als Schausvielerin sollte man sie auch kennen
lernen: sie spielte die Annie in Schnitzler's „Abschiedssouver“.
Sie haben das reizende Stückchen grausam zugerichtet; der Ueber¬
setzer hat aus der Annie eine „Louise“ gemacht und aus dem
Anatol einen „Maurice“; blos der Mar ist geblieben. Es ist
auch ein Max und Moritz=Streich schlimmster Sorte geworden.
Charlotte Wiehe gab das Balletmädel auch so, wie man in Paris sich
eine solche Dame vorstellt. Eine Demimondaine, capriciös, beweglich,
wie ein Gamin. Das ist nicht unsere Annie, wie wir sie so lieb
und echt von der Hansi Niese kennen oder in der schon stark ge¬
zwungenen, aber trotzdem anmuthenden Art der Sandrock. Sieht
man davon ab, dann zeigte Charlotte Wiehe in dieser Rolle trotz¬
dem als gewandte, liebenswürdige Schauspielerin. Erschütternd
war es also im Ganzen nicht, sondern blos amüsant und
interessant. Das Haus zeichnete die Dänin durch großen Beifall
aus; besonders als Puppe setzte sie die Hände in Bewegung.
Ein guter Partner steht ihr blos zur Seite: Mr. Severin¬
Mars. Als Einbrecher drückte er sogar die Gastin an die
Wand. Die Uebrigen sind traurige Helden.
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