II, Theaterstücke 4, (Anatol, 2), Weihnachts-Einkäufe, Seite 12

4. 2. Weihnachtseinkaeufe
0
box 7/5
Ein Entree wird nicht eingehoben.
Anatol macht Weihnachtseinkäufe.
Alt=Wiener Szene von 1930.
Von Ludwig Hirschfeld.
Goldener Sonntag in der Innern Stadt, zwischen 5 und
6 Uhr nachmittags. In den Auslagen entzückende Sachen.
Noch hübscher, noch praktischer, noch billiger als voriges
Jahr. Das Leben wird überhaupt in Wien immer billiger,
man spürt es bloß nicht, weil die Leute immer weniger Geld
haben. Ueberall Lichter, Augen, Wünsche. Und sogar die
Straßenreinigung läßt, der Weihnachtsstimmung entsprechend,
viel zu wünschen übrig ...
In diesem Gedränge von Zeitgenossen taucht plötzlich,
man weiß nicht, woher, Herr Anatol auf. Der Sohn oder gar
der Enkel des berühmten Lebemannes aus dem alten Jung¬
Wien? Nein, er ist es selber. Von dem Lebemann ist freilich
kaum mehr übriggeblieben als das Monokel und die lässig
müde Haltung. Er hat sie Jahrzehnte hindurch mit Erfolg
posiert, bis die Müdigkeit schließlich bedauerlich echt geworden
ist. Ein Jüngling ist er schon lang nicht mehr. Sogar de
feschen Herrn in den haltbaren, besten Jahren mußte er an¬
läßlich der Sanierung, deren Strapazen er nicht gewachsen
war, aufgeben. Wie alt Anatol eigentlich ist, das weiß niemand
genau. Aber da er mit einem betonten Seufzer immer sagt:
„Ja, wenn man bald sechzig wird“, dürfte er jetzt ungefähr
fünfundsechzig sein. Also doch schon ein alter Herr? Wenn er
ein Ehemann wäre. Aber Anatol hat sich bekanntlich bald nach
seinem stürmischen Hochzeitsmorgen scheiden lassen, und ist er
das geblieben, wozu ihn Gott geschaffen hat: ein Jung¬
geselle. Als Verheirateter wäre er jetzt ein behäbiger Gro߬
papa, dem Enkel auf dem Schoße sitzen oder zumindest
Schwiegersöhne auf der Tasche liegen. Als Lediger hat er noch
immer jenen Anschein von Jugendlichkeit, den der ständige
Umgang mit Klub= und Gasthausfreunden und mit Zahl¬
kellnern verleiht.
So spaziert Anatol durch die Innere Stadt. Aber nicht,
um, wie einst, Stimmungen und Abenteuer zu suchen. Nein:
nur um passende und preiswerte Weihnachtsgeschenke zu
finden. Jetzt zieht er eine Einkaufsliste hervor, bleibt vor einer
helleuchtenden Auslage stehen und um wirklich zu sehen, ver¬
tauscht er das ihm unentbehrliche Monokel mit einem Horn¬
kneifer. Dabei bemerkt er gar nicht, daß vor derselben Aus¬
lage eine Dame stehengeblieben ist. Sonst bemerkt er Damen
noch immer sehr gern, namentlich junge Frauen, worunter
er jetzt auch schon eine starke, aber, wenn möglich, schlanke
Fünfzigerin versteht. So alt dürfte die Dame vor der Aus¬
lage sein, und sie macht daraus anscheinend keinen Hehl.
Zwar trägt sie Haar und Kleid nach der Mode, aber sonst ist
sie in keiner Hinsicht die neckische Großmama oder dämonische
Schwigermutter, der man jetzt so häufig begegnet und aus¬
weicht. Vielmehr eine Frau, die ihre Jahre mit Würde und
Anmut erträgt und aus deren sympathischen Augen die ab¬
geklärte Erkenntnis spricht: Ich weiß, daß ich nicht mehr
begehrenswert bin, aber das Leben ist auch so ganz schön.
Diese ältere Dame war einmal jene junge Frau, der
Anatol vor Jahrzehnten am Weiynachtstage begegnete, in der¬
selben Innern Stadt, aber dennoch in einem ganz anderen
Wien: Frau Gabriele, die ironisch=sentimentale Mondäne.
Mit einem halb erfreuten, halb betroffenen Blick hat sie
Anatol erkannt und nun spricht sie ihn an, so ungeniert, als
ob sie eine Siebzehnjährige von heute wäre.
Gabriele: Anatol .. ., sind Sie es wirklich?
Anatol: Nicht ganz . .. Ich küss' das Herz.
Gabriele: Man sieht Sie ja gar nicht mehr.
Anatol: Stimmt. Ich komme eigentlich nur noch
in den gesammelten Werken von Artur Schnitzler vor ...
Ich passe auch gar nicht mehr in das heutige Wiener Leben.
Bei lebendigem Leib aussterben und historisch werden, das
ist eine sehr unangenehme Beschäftigung.
Gabriele: Und was machen Sie sonst?
Anatol: Dasselbe, wie in meiner Jugend: nichts.
Aber damals war das viel rentabler ..
Gabriele: Sie haben ja schon eine Menge es#
gekauft. Erlauben Sie, daß ich Ihnen einige Pakete abnehi###
W 2000
Wien, Sonntag
Anatol: Gabriele, Ihre Liebenswürdigkeit tut weh.
Damals habe ich Ihnen die Packerln getragen
220