II, Theaterstücke 4, (Anatol, 1), Die Frage an das Schicksal, Seite 32

Meisch aus dem Adelsgeschlecht
von Bohling.
Das andere Mädchen aus dem Volk? Jenny? An
ihr scheint wenig zu verderben. Sie hat Erfahrungen ge¬
sammelt.
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Jenny ist vergnügungssüchtig kaltgeherzt.
Immerhin verschlechtert der Bürgersohn ihre soziale
Stellung, mag er zugleich ihre wirthschaftliche Lage bessern.
Jenny lebte bisher als Dienstmädchen untugendhaft; nun
wird sie, nicht mehr Dienstmädchen, von der Untugend
leben. Es entsteht die Frage: muß sie das? Sie muß es
nicht. Sie könnte, von der Bürgerfrau aus dem Dienst
geschickt, in andere Dienste treten. Doch wie die Buch¬
halterin ahnt sie, daß es nicht lohnt, sich zu quälen; sie
möchte zum Ladenmädchen ohne Stellung aufrücken. Jenny
überblickt beiläufig den sozialen Hintergrund der Dinge; es
sei, bei den Uebergriffen der Söhne gegen die Dienerinnen,
„gar kein Wunder, daß es so viele Sozialdemokraten gibt“
Bleibt Hartleben's Almaviva. Er ist verbürgerlicht,
einundzwanzig Jahre alt, mit einer Fabrikantentochter
versprochen, studirt Juristerei und erscheint als gedankenloser
Knabe mit studentisch=offiziermäßigen Redewendungen, wie
man ist einfach nicht mehr konkurrenzfähig" u. s. w. Die
Mutter und der Onkel Almavivas, der in der Chausses.
straße ein Zimmer besitzt, stehen hinter ihm, größer als er
selbst. Sie lenken. Sie vertreten die Moral. Die Schöne¬
berger Moral ist: Geldmoral. Erziehung zur Ehe bleibt die
Hauptsache; finanzielle Abmachung die Hauptsache an der
Ehe. Zwei Grundsätze stellen Onkel und Mutter auf: das
Haus muß erstens rein bleiben. Ohne Spießbürger im
Hartleben'schen Sinne zu sein, könnte man diesen Grundsatz
verständlich finden, wo junge Mädchen im Hause sind. Der
zweite Grundsatz heißt: keine festen und tiefen Beziehungen
außerhalb des Hauses; denn weil die wirthschaftliche Wohl¬
fahrt höchstes Ziel ist, könnte durch unpraktische Liebschaften
Heirath nicht ausgeschlossen — die Zukunft verdorben,
die Mitgift verscherzt werden. Daß Ehen, auf solche Art
geschlossen, böse ausfallen, sucht Hartleben vollends durch
die Einführung einer gewissen Bella zu erweisen, der
Zukünftigen des Bürgersohnes. Sie ist eine Gans; er kann
sie schon jetzt nicht leiden. Wie wird es später sein?
Fontane gibt hierauf eine beruhigende Antwort. Es
bleibt eine der seltsamsten Aeußerungen dieses kaltblütigen
konservativen Skeptikers, die er zur Bekämpfung Ibsen's
vor zwölf Jahren gethan hat. Die Aufforderung, sich nach
Neigung zu verheirathen, nicht nach Geld, fand er in den
Gespenstern. Er erklärte sie für falsch. So lange die Welt
stehe, sei nach Verhältnissen, und nur sehr ausnahmsweise
nach Liebe geheirathet worden. Die Welt fuhr nicht schlecht
dabei, meint er. Jakob, der Rahel liebte, habe wohl oder
übel mit Leay beginnen müssen. Aus dieser Gleichgiltigkeits¬
ehe seien ihm Kinder geboren worden, die an Kraft und
Gesundheit nicht hinter Benjamin, auch nicht hinter der
gägyptischen Excellenz Joseph“ zurückblieben. Fontane weist
auf die reichen Bauernehen, auch auf die herrnhutischen
Ehen und erklärt ruhig, die Liebe finde sich,
„und wenn
sie sich nicht findet, so schadet es nicht.“ Geldehen hätten
noch keine Verdummung oder Versumpfung zur Folge
gehabt; nur wenn die freie Herzensbestimmung an die
Stelle der scheinbar prosaischen Ordnungsmächte trete,
dann breche die Verwirrung herein; „das wäre der Anfang
vom Ende“. Man sieht staunend, daß der Cyniker Hart¬
leben den idealistischen Standpunkt vertritt, während der
Balladensänger Fontane auf Schöneberg schwört.
Freilich, es scheint nicht klar, was Hartleben im tiefstn
Grunde gewollt hat. Die erste Fassung seines Stückes
nannte er: Satire; die letzte: Komödie. Wollte er dem
Bürgerthum von Schöneberg den Dolch ins Herz stoßen;
oder hat er vorwiegend spaßen wollen? Vielleicht von beidem
etwas. Ein Stück Beaumarchais ruht allen Ernstes
in der oft scharfen Kraft dieser Satire. Wenn auch am
Beaumarchais die Beweglichkeit, das Feuer, die belebte,
südliche Grazie unvergleichbar ist mit der kalten
Wurstigkeit dieses dünneren Norddeutschen. Hartleben ist
nüchtern wie eine Gerichtsverhandlung und macht Witze;
das ist sein Wesen. Aber die Dinge so nüchtern, so vor¬
rechnend=tühl, so unbeschönigt hinzulegen: auch dazu gehört
Muth. Und manchmal bietet sein Werk Züge, die nicht
anders als sympathisch=frech zu nennen sind. Sie haben was
Befreiendes. Nachher spaßt er wieder und versieht die Er¬
eignisse, mögen sie gleich um Menschenschicksale gehen, mit
komischen Seitenüberschriften wie: „Hugo wird blaß",
„Hammelfett schmeckt süß", „Er beleidigt Jenny“. Erscheint
ihm auch das Wesentliche in spaßhaftem Licht? Oder will
er die Leser begütigen: er sei nicht so wesentlich, nicht so
unerbittlich, nicht so anklagend, nein ein lustiger Bruder?
In seinem Angelus Silesius heißt es noch immer: Mensch
werde wesentlich!
Die Buchhalterin, Meta Hübcke, ist „kleines Mädchen“.
In Schnitzler's kleinem Stück erscheint auch ein kleines Mädchen.
Aber wieviel Unterschied in der Betrachtung. Schon
der Name: Hübcke! die Andre heißt einfach Cora; den Zu¬
namen erfährt man nicht; und noch den Vornamen bekam
sie gewiß von Anatol. Fräulein Hübcke ist Buchhalterin
und sentimentalisch. Cora ist „das Mädel mit den zer¬
stochenen Fingern“ und ganz naiv; noch in der Liebesver¬
ß. Fräulein Hübcke philosophirt; im ersten Schmerz
findet sie ein neues Moralsystem; sie könne nicht annehmen,
daß neunundneunzig Hundertstel der Menschen erbärmlich
seien; auch in der Handlungsweise dieser Mehrheit stecke
wohl Berechtigtes. Cora lacht, ist naiv=untreu, lügt naiv
und liebt mit ganzer weicher Seele. Bei Hartleben erscheint
das kleine Mädchen, wie es der Soziolog sieht; bei Schnitzler,
wie es die Liebe sieht. Anatol hypnotisirt Cora und wagt
nicht, die Frage an das Schicksal zu stellen: ob sie treu ist.
Mit Küssen weckt er sie auf.
Woran lag es, daß an dieser holden Seene fast alles
ohne Wirkung auf die Hörer blieb? Daran: daß sie von
den Schauspielern nicht verstanden wurde. Theatermätzchen
aus eignen Gnaden schenkten sie. Im Sinn der französi¬
schen Posse wurde gespielt. Sie hätten aber leiser spielen
müssen, fast mit schmerzlichem Witz, lächelnd=zart, in um¬
schleiertem, weichem Stil. Herr Jarno beugte sich über
Coras Sessel und rief „Cooora!“ in einem Ton, der Lachen
wecken sollte. Dieser Anatol sprach, als müßte er ein
drolliger Bühnenmensch sein. Und ist doch ein schwermüthig¬
lustiger Mensch mit feiner Skepsis. Dem Dichter zu Liebe
sollte, was an Feuilletonistischem in den zarten Seenen
ruht, durch leises Hinweggleiten eher vertuscht; nicht aber
Feuilletonwirkungen noch hineingebracht werden.
Die kleinen Anatoldramen sind ein Prüfstein für
Schauspielerkultur.
Alfred Kerr.