II, Theaterstücke 3, Das Märchen. Schauspiel in drei Aufzügen, Seite 32

3. Das Maerchen
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Ein Märchen.
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auch gar keine jungen Mädchen aus der Gesellschaft, die sich da kompromittirten,
sondern dienende, denen Niemand nachfragte, ob sie reinlich und zweifelsohne
waren. Max Halbe hat so ein Drama geschrieben, das „Freie Liebe“ hieß.
Aber mir scheint, daß da der Accent ganz mit Unrecht auf Liebe gelegt ist.
Freier Hausstand hätte eigentlich viel besser den Temperaturgrad zwischen den
beiden Leutchen ausgedrückt.
Und die Frage wanderte weiter und sie kam nach Wien, ganz unberupst
von ihrem Theorienschmuck. Herman Bahr hat sie oft behandelt, aber leicht¬
sinnig. Das hieß nun aber gleich das Ganze verschütten. Darum that auch
Niemand, als hörte er auf ihn. In der Behandlung eines so tief ethischen
Probiems darf auch nicht die leiseste Frivolität hervorschimmern, wenn nicht
Alles verdorben werden soll. Eher schon eine größere Dosis Pedanterie, Das
schadet einer solchen Sache gar nichts. Die freie Liebe ist nicht zum Spaß
da; sie ist ein „sittliches Prinzip“. So hat auch Max Halbe sie verstanden.
Es galt, eine reinliche Scheidung vorzunehmen zwischen jenen schwächeren
Naturen, die die freie Liebe schon möchten, und jenen energischen Thecretikern,
die sie auch praktisch anschaulich machen. Max Halbe hat den nüchternen Blick
des Ostpreußen auf Menschen und Dinge, er verfliegi sich nicht ins romantische
Land, er bleibt auf dem Boden der trivialen Wirklichkeit. Und wie es in der
Wirklichkeit auch zu sein pflegt: die schwächeren Naturen sind ganz unterhaltende
Leutchen, der sattelfeste Theoretiker aber und deis freie Mädchen seiner Wahl,
Das sind Leute, die aus Prinzip langweilig wären, wenn es ihnen nicht schon
# Natur bescheert wäre, so zu sein. Max Halbe hat Das so im Leben ge¬
funden und als gewissenhafter Naturalist in seinem Stück wiedergespiegelt. Als
sich dann eines Tages der Schutzmann einfindet, um sich nach den Beziehungen
des Paares zu einander zu erkundigen, da sagt der Doktrinär der persönlichen
Freiheit: Jetzt heirathen wir erst recht nicht. Es wäre unmoralisch. Wir sind
allerdings durch Temperament und Bequemlichkeit so verheirathet wie möglich,
aber aus Prinzip sind wir freie Menschen; wir wandern aus! Wenn die
Polizei wieder kommt, findet sie nur ein leeres Rest. Dieses Stück ist doch
durch die Neigung des Norddeutschen zur Abstraktion mehr eine ehtische Syn¬
these. Im Leben lassen es auch die reinlichsten Theoretiker nicht ganz so weit
kommen. Sie heirathen die Jungfrau, mit der sie „gegangen“ sind, nach einer
kürzeren oder längeren Probezeit. Es werden meist die friedlichsten Ehen.
Der Gatte ist kein Phantast; er verlangt nicht zu viel, weder von der Ver¬
gangenheit noch von der Gegenwart, und da Kindersegen meist prinzipiell, in
Anbetracht der schlechten Zeiten und der Verantwortlichkeiten der Erziehung,
ausgeschlossen ist, so kann die Theorie nicht einmal für die Gesellschaft ge¬
fährlich werden, da sie mit ihren Erzeugern wieder ausstirbt.
So stand die Frage, als sie nach Wien kam. Im Norden war sie unter
den Händen unbändiger Dichter ein theoretisch begründeter Anarchismus des
Bluts, in Berlin war sie ein durch besonnene Menschen, aber unbesonnene
Schriftsteller ordentlich klassifizirtes und etiquettirtes Vernunftprinzip geworden
und als solches präsentirt sie sich in der einleitenden Debatte über diese Frage
in Arthur Schnitzlers kürzlich erschienenem dreiaktigen Schauspiel: „Das
Märchen“. Aber diese jungen Wiener Schriftsteller, die, ganz wie die Berliner
jungen Schriftsteller, im ersten Akte über die Sache in einem über allen Dialekten
schwebenden Schriftdeutsch theoretisiren, sind doch wunderliche Menschen; sie
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