3. Das Maerchen
4. 6 Sa
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Ein Märchen.
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wirksames Stück Individualpsychologie. Das wäre ja gerade für die Bühne
etwas Neues, ein Fortschritt, da ja selbst unsere besten „Modernen“ es nicht
über allgemeine Psychologie auf den Brettern gebracht haben. Aber es ist doch
etwas mehr. Es ist der Ausdruck einer veränderten und verfeinerten Auffassung
des Verhältnisses zwischen Mann und Weib.
Die „Gefallene“ war nicht nur früher, sie ist auch jetzt wieder ein viel
behandeltes deutsches Thema. Die Unschuld ohne Unschuld, — Das ist so pikant.
Das Mädchen fällt mit unbefleckter Seele; es ist ja so unerfahren, der Ver¬
führer ist an Allem schuld und der Verführer ist jedesmal ein ganz kaltblütiger,
berechnender Schurke. Im Norden war man nicht so heuchlerisch. In der
nordischen Literatur über die freie Liebe fielen die Mädchen schon mehr aus
eigener Initiative; sie fielen, oder vielmehr „sie wurden Weib“, denn „tel était
leur hon plaisir.“
In Schnitzlers Drama ist eine Szene, die in ihrer einfachen Natürlichkeit
zum Besten gehört, was ich gelesen habe. Es ist das Gespräch zwischen dem
sich demnächst verheirathenden Lebemann Dr. Witte und Fedor Denner. Es
ist eine vollständige Psychologie des honnetten Lebemanns und des halb
anständigen Mädchens mit der Prätention, geheirathet zu werden. So ver¬
schieden sonst die Lebensformen im Norden, in Berlin und in Wien von ein¬
ander sind —: dieser Typus des Mädchens aus anständiger, fast immer armer
Familie, das in der Wartezeit auf den Mann — oder als Aufforderung zur
Ehe — wiederholt fällt, ist überall beinahe der gleiche. Es fällt nicht aus Be¬
rechnung, es fällt aus Disposition.
Wir Frauen kennen uns unter einander sehr gut über diesen Punkt aus.
Wir wissen schon in der Schule, welche „so ist“ und welche nicht „so ist.“ Wir
wissen es von einander gewöhnlich lange, ehe eine „so“ geworden ist, — aus
Instinkt. Dieser Punkt ist gewöhnlich auch einer der tiefsten Scheidungen zwischen
Weib und Weib. Zwischen dem Mädchen mit der Neugier und dem mit den kalten
Sinnen oder jenem andern mit den tiefen Pulsschlägen desganzen Wesens, das sich
so herb zusammenhält, gerade weil es fühlt, wie eruptiv und persönlich es ist;
zwischen diesen Dreien ist gewöhnlich keine Brücke und kein Verkehr. Die Erste
ist die, welche auf den Bällen am Meisten betanzt wird. Die Zweite ist die,
welche am Häufigsten geheirathet wird, die Dritte findet und giebt das Glück
oder das Ungiück; sie ist aus dem Stolz der Persönlichkeit zu allem Möglichen
im Stande, auch zur freien Liebe, wie sie im Norden verstanden wird, — nur
zum Naschen nicht.
In Schnitzlers Drama wird dem Märchen von der freien Liebe hart auf
den Leib gerückt. Wer setzt sich dafür ein? Ein exaltirter Durchschnittsmensch
vielleicht, aber kein Spießbürger. Der Germane ist gar nicht geschaffen für die
losen Verhältnisse. Er will es warm und traulich um sich haben, er will das
häusliche Glück, die enge, ununterbrochene Vertraulichkeit. Er findet noch mehr
darin: „Für die große Menge liegt in dem Wort Familie die Idee der Ab¬
geschlossenheit, der trivialen Bequemlichkeit ausgesprochen, — für uns liegt
Etwas von der Idee der Ewigkeit darin.“ Darum führt das freie Verhältniß
bei dem Germanen fast immer in dieser oder jener Form zur Ehe. Zu dem
Weib, das er nimmt, muß er als der Erste kommen, oder er kann nicht zu
ihm kommen. Es ist aus, das Märchen von der freien Liebe.
Stege in Dänemark.
Laura Marholm.
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wirksames Stück Individualpsychologie. Das wäre ja gerade für die Bühne
etwas Neues, ein Fortschritt, da ja selbst unsere besten „Modernen“ es nicht
über allgemeine Psychologie auf den Brettern gebracht haben. Aber es ist doch
etwas mehr. Es ist der Ausdruck einer veränderten und verfeinerten Auffassung
des Verhältnisses zwischen Mann und Weib.
Die „Gefallene“ war nicht nur früher, sie ist auch jetzt wieder ein viel
behandeltes deutsches Thema. Die Unschuld ohne Unschuld, — Das ist so pikant.
Das Mädchen fällt mit unbefleckter Seele; es ist ja so unerfahren, der Ver¬
führer ist an Allem schuld und der Verführer ist jedesmal ein ganz kaltblütiger,
berechnender Schurke. Im Norden war man nicht so heuchlerisch. In der
nordischen Literatur über die freie Liebe fielen die Mädchen schon mehr aus
eigener Initiative; sie fielen, oder vielmehr „sie wurden Weib“, denn „tel était
leur hon plaisir.“
In Schnitzlers Drama ist eine Szene, die in ihrer einfachen Natürlichkeit
zum Besten gehört, was ich gelesen habe. Es ist das Gespräch zwischen dem
sich demnächst verheirathenden Lebemann Dr. Witte und Fedor Denner. Es
ist eine vollständige Psychologie des honnetten Lebemanns und des halb
anständigen Mädchens mit der Prätention, geheirathet zu werden. So ver¬
schieden sonst die Lebensformen im Norden, in Berlin und in Wien von ein¬
ander sind —: dieser Typus des Mädchens aus anständiger, fast immer armer
Familie, das in der Wartezeit auf den Mann — oder als Aufforderung zur
Ehe — wiederholt fällt, ist überall beinahe der gleiche. Es fällt nicht aus Be¬
rechnung, es fällt aus Disposition.
Wir Frauen kennen uns unter einander sehr gut über diesen Punkt aus.
Wir wissen schon in der Schule, welche „so ist“ und welche nicht „so ist.“ Wir
wissen es von einander gewöhnlich lange, ehe eine „so“ geworden ist, — aus
Instinkt. Dieser Punkt ist gewöhnlich auch einer der tiefsten Scheidungen zwischen
Weib und Weib. Zwischen dem Mädchen mit der Neugier und dem mit den kalten
Sinnen oder jenem andern mit den tiefen Pulsschlägen desganzen Wesens, das sich
so herb zusammenhält, gerade weil es fühlt, wie eruptiv und persönlich es ist;
zwischen diesen Dreien ist gewöhnlich keine Brücke und kein Verkehr. Die Erste
ist die, welche auf den Bällen am Meisten betanzt wird. Die Zweite ist die,
welche am Häufigsten geheirathet wird, die Dritte findet und giebt das Glück
oder das Ungiück; sie ist aus dem Stolz der Persönlichkeit zu allem Möglichen
im Stande, auch zur freien Liebe, wie sie im Norden verstanden wird, — nur
zum Naschen nicht.
In Schnitzlers Drama wird dem Märchen von der freien Liebe hart auf
den Leib gerückt. Wer setzt sich dafür ein? Ein exaltirter Durchschnittsmensch
vielleicht, aber kein Spießbürger. Der Germane ist gar nicht geschaffen für die
losen Verhältnisse. Er will es warm und traulich um sich haben, er will das
häusliche Glück, die enge, ununterbrochene Vertraulichkeit. Er findet noch mehr
darin: „Für die große Menge liegt in dem Wort Familie die Idee der Ab¬
geschlossenheit, der trivialen Bequemlichkeit ausgesprochen, — für uns liegt
Etwas von der Idee der Ewigkeit darin.“ Darum führt das freie Verhältniß
bei dem Germanen fast immer in dieser oder jener Form zur Ehe. Zu dem
Weib, das er nimmt, muß er als der Erste kommen, oder er kann nicht zu
ihm kommen. Es ist aus, das Märchen von der freien Liebe.
Stege in Dänemark.
Laura Marholm.
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