II, Theaterstücke 3, Das Märchen. Schauspiel in drei Aufzügen, Seite 57



Leut' haben voriges Jahr glücklich vermocht, sich aus dem
Grabe frisch und lebendig zu erheben. Schnitzlers vor vierzehn
Jahren aufgeführtes, vor siebzehn Jahren geschriebenes Schau¬
spiel hat sich gestern ein wenig bleicher aus dem Archivgrab
erhoben. Der Dichter oder ein verständiger Regisseur hätte das
Schauspiel vor allem wortärmer, diskussionsfreier zuschneiden
müssen. Zu deutlich weist das Schauspiel auf den Ursprung der
Jung=Wiener=Dichtung: Die Geburt der Literatur aus dem Geiste
des Kaffeehauses! Zu deutlich protzt aus den Literaten, die der
Dichter mit hochachtungsvollem Ernste gemalt hat, die Ver¬
achtung für die einfachen Menschen hervor, die der Dichter mit
billiger Ironie gezeichnet hat. In diesem aufrichtigen Erstlings¬
werk hat sich die Isoliertheit des Literatentums, das armselige
und selbstgefällige Ichtum des wienerischen Literaten, der keinen
nationalen, keinen sozialen, kaum einen menschlichen Kontakt
mit den „anderen“ hat, ein deutliches Denkmal gesetzt. Es muß
übrigens hinzugefügt werden, daß Schnitzler von Werk zu Werk
blutreicher, wärmer und weiter wurde. Er würde dieses Drama
heute in viel reinerer Luft, in ganz anderer Distanz zu seinen
Gestalten schreiben!
Fedor Denner hält Reden gegen die Philister, die ein
Mädchen, das schon geliebt hat, deshalb für „gefallen“ ansehen.
Aber in den Stunden, da seine Weisheit Wirklichkeit werden
soll, wird er unter Krämpfen gewahr, daß auch er unwillkürlich
in die Vergangenheit der Geliebten starren muß. Er kommt
nicht darüber hinweg. Auch dieser Problemkern ist typisch für
das Literatentum. Das verkündet Wahrheiten, die es an der
eigenen Seele gar nie erlebt hat, und hört auf, zu verkündigen,
sobald die eigene innere Erfahrung zu sprechen beginnt. Frei¬
geister mit übernommener, nicht erworbener Ueberzeugung,
Freigeister aus Unfreiheit des Geistes. Mit psychologischem
Bohrsinn, der Schnitzlers echteste Tugend ist, wird dieser Fedor
Denner seiner Redensarten entkleidet. Da zeigt sich, daß die
Vorurteile aus Instinkten stammen, die Ueberzeugungen jedoch
nur aus Ueberlegungen! Das eigentlichste Problem seines
Werkes streift Schnitzler nur. Fedors Reden gegen das Fallen¬
lassen der Gefallenen sind ethische Affekte, Fedors Taten,
wodurch eine Gefallene gefällt wird, entspringen erotischen
Impulsen. Das Mädchen entdeckt sich dem Geliebten, indem
sie ihm nach einer Rede die Hand küßt. Im zweiten Akte
läuft sie in seine Wohnung, fällt ihm zu Füßen und ruft ein¬
mal: „Warum schreist du nicht?“ (Wenn ich nicht irre, sogar:
„Warum schlägst du mich nicht?“) Sie hat Lust an der Er¬
niedrigung vor ihm. Unwillkürlich fällt der Mann in den
erotischen Gegenpart. Nach dem Handkuß wird er grausam. Er
meidet ihr Haus. Sie sucht ihn auf, er umarmt sie und beginnt
sie aber sogleich mit stiller, tückischer Grausamkeit zu quälen.
Ursache (oder vielleicht doch nur Anlaß?) — der Frühere. Es
ist dem Dichter selber vermutlich unbewußt geblieben, daß sich
seine ethische allmählich in eine erotische Tragödie umgewandelt
hat. Daß dies dem Dichter unbewußt geblieben (diese Kon¬
traste wären sonst wohl stärker unterstrichen), spricht am
lautesten für Arthur Schnitzler und sein Jugendwerk. Das un¬
bewußte Gelingen unterscheidet den Dichter vom Literaten. Um
dessentwillen stand der Dichter des „Märchen“ schon über den
Schreibgesellen, die er vorführte.
Das Bürgertheater war dem Werke nicht ganz gewachsen.
Fräulein Olga Weede gab die einst von der Sandrock ge¬
spielte Fanni. Ehe sie viel zu reden hatte, interessierte das
Fräulein sehr. Dann aber kam sie in ein unaufhörliches Forte
hinein, ohne leisere Töne, ohne die beruhigenden Atemzüge
stilleren Erlebens. Dem Fräulein fehlt noch jede Oekonomie,
jede Kunst des allmählichen Aufbaues und vielleicht auch die
Fähigkeit, in den gesteigertesten Momenten wirklich aufzu¬
schmelzen. Ich zweifle keinen Augenblick, daß Fräulein Heller
die Rolle viel inniger gegeben hätte! Ganz überraschend diskret
in den stillen Szenen des ersten Aktes war wieder das kluge
Fräulein v. Brenneis. Herr John gab den Fedor,
manchmal mit außerordentlich viel Takt und Intelligenz, dann
wieder mit einem bösen Augenrollen, das aus aller Illusion
riß. Sehr gut, einfach wienerisch, waren Frau N#¬
k, Herr
Seitz und namentlich Herr Berger. Fräule Lormas
affektiertes Untalent störte wieder und ein Herr Lartberg,
der debütierte, ist in Wien nicht möglich. Dem neuen Regisseur
Rüthling ist nichts Besonderes nachzurühmen. st. gr.
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3. Das Maerchen

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(Quellenangabe ohne Gewähr)
Ausschnitt ausans vörgel von Gumpoldekircher
Wien:
vom: 5- ORI.1907
Theater und Musik.
Wiener Bürger=Theater. Schnitz#er auf die
Szene zu bringen, war jedenfalls für Theaterfkemide ein
interessantes Unternehmen; leider bietet aber gerade „Das 18
Märchen“ ein literarisches Interesse ohne Genugtuung. g
Von allen den Stücken, die wir von Schnitzler kennen, 2.
voran gegenüber „Liebelei“, „Freiwild“, „Lebendige Stunden“,
3
ist es in seiner geistigen Anlage am wenigsten wirksam.
Schnitzler war damals, als er „Das Märchen“ schrieb,
weder als Dramatiker noch als Denker ausgegohren. Er weiß
sich zu seinem „Märchen“ nicht zu stellen. Daß darüber kein
Mann hinwegkommt, wenn die, welche er liebt, sich vor ihm
einem andern hingegeben hat, ist ihm das Märchen. Aber
wie? Fedor Denner, der im ersten Akte für die Gefallene mit
biblischem Geiste eintritt, entpuppt sich im weiteren Verlaufe
als ein hanswurstiger Othello. Freilich hat es ihm Schnitzler
schwer gemacht, die Wahrheit als Märchen zu sehen, sein Hieb
hat gleich dreimal fehlgetreten, und so bleibt das Märchen
vorläufig Wahrheit und das liebe Publikum bleibt so klug
wie zuvor, ohne sich bei dem endlosen Zankduett besonders
amusiert zu haben. Die Darstellung konnte daran nichts
ändern. Sie war im ganzen sehr anständig. Ein abschließendes
Urteil über die neuen Kräfte des Bürger=Theaters, Fräulein
Weede und die Herren John und Hartberg möge
uns vorbehalten bleiben. Nach dem reichlichen, oft stürmischen
Beifall wur alles in allem ein Erfolg.