II, Theaterstücke 3, Das Märchen. Schauspiel in drei Aufzügen, Seite 103

3. Das Maerchen

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Dr. Max Goldschmidt
Büre für Zeitungsausschnitte
Telefon: Norden 3051
BERLIN N4
Ausschnitt aus:
Berliner Börsen Courier
15. März 1921
Theatee und Musik
Das Marchen.
Lessingtheater.
Ein Frühwerk Avhür Schnitzlers, dicht hinter
seinen Anatol=Szenen entstanden, mit Vorklän¬
jen der „Liebelei". Das „Märchen“ ist noch
reichlich mit jenem Pathos unterfüttert, das die
pätere, den Erfolg Schnitzlers begründende Vor¬
stadttragödie abzustellen wußte. Die schiefe
Einstellung dem Hauptihema gegenüber, das in
der Behandlung einer „Gefallenen“ zwischen
Theorie und Praxis unterscheidet, wurde in der
„Liebelei“ durch stofflich zarte Auflösung jenseits
von Tendenzen zurechtgerückt. Aber hier im
„Märchen“ stauen sich Diskurse, wird Weltanschau¬
ung gepredigt und ein charmanier Anhänger der
freien Liebe entpuppt sich in seinem Sonderfalle
als sentimentaler Spießer und blinder Moralist.
Sphärisch gehört das Stück zu der kurzatmigen
Aufklärungsperiode, die seinerzeit Felix Dörmann
eingeleitet hat.
Schnitzler geriet aus dieser, ihr Kühnheit
überschatzenden rhetorischen Erlösungspose bald
hinaus, um sich (nicht ohne Rückfälle) gegenständ¬
licherer Gestaltung zuzuwenden. Es ist eine Grau¬
samkeit gegen sich selber, wenn er die Wieder¬
einführung einer schwächlichen, geistig mageren,
durch das Milien nicht gestärkten, sondern bana¬
lisierten Vorstudie seines Interessengebietes zu¬
ließ. Sie hat bloß philologischen Wert, indem sie
zwar Ansätze des spateren Schnitzlers bietet, aber
auch gerade das dramatisiert, was der reifende
Dramatiker mit gutem Grunde ausschaltete. Wäre
Schnitzler ein Gestalter so verthranter Liebhaber
geworden, wie im „Märchen“ einer als Bewer¬
her einer jungen Diva herumläuft, um ihr
ohne Not, gegen sein Gefühl, bloß aus säuerlicher
Bedenklichkeit den Laufpaß zu geben, hätte er
seine Frauen so backfischhaft in ihrer Freizügigkeit,
o gefühlsduselig in ihrer Emanzipation gezeich¬
net wie dieses moralische Zwitter junger Schau¬
spielerin, er hätte sich niemals als empfindsamer
Charakteriftiker und farbiger Kolorist der Wiener
Athomsphäre durchgesetzt. Diese von ihm selbst
weit überholte Arbeit bietet keinen Anlaß, das
Problem Schnitzler an heutigen Bedürfnissen der
Bühne zu messen. Sicheres Zeitgefühl hätte ihn
freilich vor einer überflüssigen Preisgabe durch
ein verblichenes, den Typus des Gesellschafts¬
dramatikens entwertendes Jugendstück bewahren
müssen.
Die Rücksichtslosigkeit Schnitzlers gegen sich
selber wurde durch eine Inszenierung verschärft,
die ihresgleichen auch in einer verwilderten,
planlos desorganisierten Zeit suchen muß. Wenn
es noch einer Bestätigung bedurft hätte, welchen
Gefahren die Berliner Theaterverhältnisse durch
das Rottersystem ausgesetzt waren, könnte man
kein schlagenderes Beispiel finden. Man hat auf
Berliner P den, auch draußen in den Vorstädten,
selten ein so verwaschene, textlich zerfahrene, mit
so viel falschen Tönen gesegnete, mit einer so
jämmerlichen Besetzung herabgewürdigte Auf¬
führung gesehen. Der Regisseur und Haupt¬
darsteller des Abends Curt von Möllendorf
hat freilich ein paar Tage vorher eine Operation
durchgemacht, und man erzählt sich, daß er seine