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3. Das Maercher
Dr. Max Goldschmiet
Büro für Zeitungsausschnitte
BERLIN N4
Telefon: Norden 3051
6. Halz 1925
Das Märchen.
Im Lissingtheater.
Diese Schnitzlerische Jugendsünde hat so lange
in der Rumpelkammer gelegen, daß die Staub¬
schicht selbst nicht mit dem Vakuumeleaner fortzu¬
blasen ist. Ob er wohl kurz vor dem Weltkrieg
noch lebte, dieser Fedor Denner, der sich hart an
der Grenze zwischen Boheme und Philisterium
angesiedelt hat und verurteilt ist, unter Seelen¬
qualen das „Problem“ zu lösen, ob man ein
prächtiges Mädel, einen aufgehenden Stern der
Bühne, liebhaben darf, ohwohl es bereits eine
kleine Vergangenheit hat. Sollte heutzutage noch
ein Exemplar dieser Gattung existieren, so erörtert
er wohl seinen komplizierten Fragenkomplex mit
den Kapalieren und Lokalreportern von Pose¬
muckel, darf aber nicht erwarten, daß wir Zeit
verschwenden, um uns seine Wichtigkeiten anzu¬
hören.
Wenn die Direktion Rotter dieses Stück trotz¬
dem in den Spielplan aufnahm, so geschah es
wechl nur, um Camilla Spira Gelegenheit zu
geben, ihr Können an der Fanny Theren auszu¬
proben. Tatsächlich ist sie auch der einzige Licht¬
blick des Abends. Mit der Kleinen aus der treuen
Vorstädt hat sie zwar nichts gemein, gibt sich aber
ansonsten mit soviel Frische und Natürlichkeit, daß
##an ihr zuliebe manche Unerträglichkeit des Dialogs
über sich ergehen ließ. Der starke Beifall, den sie
erntete, war wohlverdient und sie hatte keine Ver¬
anlassung ihn, reizend bescheiden mit andern teilen
zu wollen.
Ansonsten: Kaiser=Tietz in einer.
leider allzukurzen, Episodenrolle routiniert und
sicher wie steis! Von Rudolf Lettinger ist
man eigentlich besseres gewöhnt. Kurt von
Möllendorf, der auch Regie führte, soll — er
war kurz vor der Premiere krank — mildernde
Gründe in Anspruch nehmen dürfen. Von allen
übrigen läßt uns — bis auf die stets zuverlässige
Else Wasa — lieber schweigen
—
Dr Max Goldschmict
Büro für Zeitungsausschnitte
Telefon: Norden 3051
BERLIN N4
Ausschnitt aus:
Die Zeit, Berlin
G. 53, 1925
Kunst und Wissenschaft.
* Das Lessingtheater grub Arthur Schnitz¬
lers dreiaktiges Schauspiel „Das Märchen“
aus, das nun schon dreißig Jahre alt ist, eine der
frühsten Arbeiten Schnitzlers, in der er noch recht
unsicher nach der eigenen Art tastet, um schließlich
das Ganze, welches das Problem vom Recht der
Gefallenen auf bürgerliche Ehren wie Liebe und
Ehe von allen Seiten betrachter, in einer Sardou¬
szene verknallen zu lassen. Weder Schnitzler noch
dem Theater erwies man einen Dienst mit dieser
Ausgrabung, denn das Stück ist unlebendig, und
die Aufführung war es erst recht. Die Gefallene
hätte sich wenigstens etwas Kummerschminke auf
die drallen, nur allzu lebfrischen Wangen legen
sollen. So glaubie man ihr den Seelenschmerz
nicht; und wenn sie empört oder ergriffen sein
wollte, hatte sie für beides nur den Ausdruck eines
bös=vorsichtigen Kätzchens, das eine Dogge an¬
bellt. Eine andere Darstellerin war nur zu zwei
Aeußerungen für ein Dutzend verschiedene Stim¬
mungen fähig: entweder zeigte sie lachend das
tadellose Gebiß oder zog bedeutsam die Stirnhaut
unter Schütteln des Bubikopfes auf und nieder
wie ein wacher Hase seine Nase. Der Liebhaber
der Gefallenen aus gutbürgerlicher Wiener
Familie, der nicht weiß, ob seine Liebe stark genug
zum Heiraten oder nur zum Liebeln ist, fand durch
einen wenig jugendlichen Schauspieler von un¬
entwegt blühendem Aussehen und dämonischem
Blick seine Wiedergabe, der alle fünf Minuten
stöhnend nach der Stirn griff, so daß man ihm
ein Pyramidon hätte schenken mögen, und mit
aller Kunst eines Routiniers die Stimme rollen
ließ. Ein anderer wehrte sich erfolglos gegen
einen schweren Zungenfehler, der nicht in seiner
Rolle stand. Als Prominenter aber bewegte sich
Erich Kaiser=Titz inmitten dieser Vorstellung,
mit der kaum eine mittlere Theaterschule Ehre ein¬
gelegt hätte, und ließ sich herbei, um das
Ensemblespiel nicht durch Talent zu stören, meist
nur lässig zu markieren. — Ein Trost aber war
3. Das Maercher
Dr. Max Goldschmiet
Büro für Zeitungsausschnitte
BERLIN N4
Telefon: Norden 3051
6. Halz 1925
Das Märchen.
Im Lissingtheater.
Diese Schnitzlerische Jugendsünde hat so lange
in der Rumpelkammer gelegen, daß die Staub¬
schicht selbst nicht mit dem Vakuumeleaner fortzu¬
blasen ist. Ob er wohl kurz vor dem Weltkrieg
noch lebte, dieser Fedor Denner, der sich hart an
der Grenze zwischen Boheme und Philisterium
angesiedelt hat und verurteilt ist, unter Seelen¬
qualen das „Problem“ zu lösen, ob man ein
prächtiges Mädel, einen aufgehenden Stern der
Bühne, liebhaben darf, ohwohl es bereits eine
kleine Vergangenheit hat. Sollte heutzutage noch
ein Exemplar dieser Gattung existieren, so erörtert
er wohl seinen komplizierten Fragenkomplex mit
den Kapalieren und Lokalreportern von Pose¬
muckel, darf aber nicht erwarten, daß wir Zeit
verschwenden, um uns seine Wichtigkeiten anzu¬
hören.
Wenn die Direktion Rotter dieses Stück trotz¬
dem in den Spielplan aufnahm, so geschah es
wechl nur, um Camilla Spira Gelegenheit zu
geben, ihr Können an der Fanny Theren auszu¬
proben. Tatsächlich ist sie auch der einzige Licht¬
blick des Abends. Mit der Kleinen aus der treuen
Vorstädt hat sie zwar nichts gemein, gibt sich aber
ansonsten mit soviel Frische und Natürlichkeit, daß
##an ihr zuliebe manche Unerträglichkeit des Dialogs
über sich ergehen ließ. Der starke Beifall, den sie
erntete, war wohlverdient und sie hatte keine Ver¬
anlassung ihn, reizend bescheiden mit andern teilen
zu wollen.
Ansonsten: Kaiser=Tietz in einer.
leider allzukurzen, Episodenrolle routiniert und
sicher wie steis! Von Rudolf Lettinger ist
man eigentlich besseres gewöhnt. Kurt von
Möllendorf, der auch Regie führte, soll — er
war kurz vor der Premiere krank — mildernde
Gründe in Anspruch nehmen dürfen. Von allen
übrigen läßt uns — bis auf die stets zuverlässige
Else Wasa — lieber schweigen
—
Dr Max Goldschmict
Büro für Zeitungsausschnitte
Telefon: Norden 3051
BERLIN N4
Ausschnitt aus:
Die Zeit, Berlin
G. 53, 1925
Kunst und Wissenschaft.
* Das Lessingtheater grub Arthur Schnitz¬
lers dreiaktiges Schauspiel „Das Märchen“
aus, das nun schon dreißig Jahre alt ist, eine der
frühsten Arbeiten Schnitzlers, in der er noch recht
unsicher nach der eigenen Art tastet, um schließlich
das Ganze, welches das Problem vom Recht der
Gefallenen auf bürgerliche Ehren wie Liebe und
Ehe von allen Seiten betrachter, in einer Sardou¬
szene verknallen zu lassen. Weder Schnitzler noch
dem Theater erwies man einen Dienst mit dieser
Ausgrabung, denn das Stück ist unlebendig, und
die Aufführung war es erst recht. Die Gefallene
hätte sich wenigstens etwas Kummerschminke auf
die drallen, nur allzu lebfrischen Wangen legen
sollen. So glaubie man ihr den Seelenschmerz
nicht; und wenn sie empört oder ergriffen sein
wollte, hatte sie für beides nur den Ausdruck eines
bös=vorsichtigen Kätzchens, das eine Dogge an¬
bellt. Eine andere Darstellerin war nur zu zwei
Aeußerungen für ein Dutzend verschiedene Stim¬
mungen fähig: entweder zeigte sie lachend das
tadellose Gebiß oder zog bedeutsam die Stirnhaut
unter Schütteln des Bubikopfes auf und nieder
wie ein wacher Hase seine Nase. Der Liebhaber
der Gefallenen aus gutbürgerlicher Wiener
Familie, der nicht weiß, ob seine Liebe stark genug
zum Heiraten oder nur zum Liebeln ist, fand durch
einen wenig jugendlichen Schauspieler von un¬
entwegt blühendem Aussehen und dämonischem
Blick seine Wiedergabe, der alle fünf Minuten
stöhnend nach der Stirn griff, so daß man ihm
ein Pyramidon hätte schenken mögen, und mit
aller Kunst eines Routiniers die Stimme rollen
ließ. Ein anderer wehrte sich erfolglos gegen
einen schweren Zungenfehler, der nicht in seiner
Rolle stand. Als Prominenter aber bewegte sich
Erich Kaiser=Titz inmitten dieser Vorstellung,
mit der kaum eine mittlere Theaterschule Ehre ein¬
gelegt hätte, und ließ sich herbei, um das
Ensemblespiel nicht durch Talent zu stören, meist
nur lässig zu markieren. — Ein Trost aber war