Maerchen
box 7/2
3. Das
„OBSERVER
I. österr. behördl. konzessioniertes
Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
WIEN, I., WOLLZELLE 11
TELEPHON R-23-0-43
Ausschnitt aus:
vom:
Der Morgen, Wien
Wien, 5. November 1934.
*
S
über:
Der vaterländische Bahr
Im Akademietheater spielt man seit
einigen Tagen wieder mit großem Er¬
#Kesser###von Hermann
Führ. In diesem Stück des großen
österreichischen Dichters tritt dos Werk
vor den Dichter. In der nachfolgenden
Skizze tritt der Dichter ver das Werk.
Der Mann, der die dritt- oder viert¬
millionste Beitrittskarte zur Voterländi¬
schen Front empfangen wird, kan: siner
goldenen Uhr mit feierlicher A#####iche
sicher sein. Dennoch ist es schis##n ge¬
wesen, der Erste als der Viermulionste
zu sein. Der erste bewußte Österreicher
unserer Epoche war vielleicht Her¬
mann Bahr. ich hatte als regelmäßi¬
ger, blutjunger Mitarbeiter der grauen
„Zeit“, der vorbildlichen Wochenschrift,
deren literarischen Teil er leitete, seine
Wandlung vom bummelnden Europder
zum angesiedelten und bewußten Öster¬
reicher in der Nähe mitansehen dürfen
und konnte ermessen, icas seine Wand¬
lung und Werdung ihn an inneren Kräf¬
ten gekostet hat. Er hatte jahrelang in
Paris, in Petersburg, in Berlin herum¬
zigeunert und war in diesen Jahren ein
guter Europder geworden. Aber als er so
in die Mitte der Dreißigerjahre kam,
hielt er es weder in Puris, noch in Ru߬
land, noch in den kahlen Cafés der
Friedrichstraße aus. Er übersiedelte nach
Wien, brachte in die „Deutsche Zeitung“
noch in den Neunzigerjahren das leben¬
digste Blatt Wiens, elektrisierendes Le¬
ben — besonders durch ein in Deutsch¬
land und Österreich orrangiertes Rund¬
interview über den Antisemitismus, das
nicht allein durch die Persönlichkeit der
Befragten, sondern auch durch die stilisti¬
schen Kühnheiten des Schreibers Auf¬
sehen machte. So beschrieb er einmal die
unerwartete Straßenbegegnung mit zwei
hübschen Mädchen auf dem Kurfürsten¬
damm, „aber in der Nühe waren ste aus
Wien“.
Je länger der Heimgekehrte in Wien
blieb, desto fester war er entschlossen,
eine literarische Richtung hier zu be¬
gründen. Er gab die Parole aus: „Jung¬
wien“ er schuf Jungwien. Dabei war
er nicht engherzig, er warb um die weise,
greise Ebner-Eschenbach und er
druckte in der „Zeit“ die letzte schöne
Novelle Ferdinand von Saars ab,
er würdigte die witzigen, mehr als witzi¬
gen Romane des Baron Torresani,
die den österreichischen Offizier von sei¬
ner heitersten Seite zeigen. Aber er kom¬
mandierte eines Tages auch, daß Wien
einen neuen Dichter, namens Loris, zus
bewundern habe, es war der damals nock
im Gumnasium werdende Hugo von Hof¬
mannsthal. Er sprach von Arthur dem
Dichter des „Anatol“ und erzwang eine
Aufführung seines ersten Stückes „Ein
Märchen“, in dem die junge Adele
Sandrock dem Wiener Dichter Artkur
Schnitzler dien#
Fähr Rannte sein vaterländisches
Unternehmen, dem die Spitze gegen Ber¬
lin nicht fehlte, „Jungwien“. Er war
nämlich trotz allem angeborenem Linzer¬
tum und später selbstbeiußtem Salzbur¬
gertum überzeugt, daß die geistigen Be¬
wegungen in den Großstädten wurzeln
und wachsen. So schön und s0 an¬
heimeind Salzburg ist, Bahr konnte es
erst beziehen, nachdem sein Jungwiener
Werk, das er zuletzt im Bunde mit den
Malern und Baumeistern einer neuen Ge¬
neration beendete, in Wien und vor ganz
Europa aufgegangen war. Von Ebensee
oder Hollabrunn, so schön sie liegen,
hätte er eine geistige Renaissance seines
Vaterlandes nicht in die Wege leiten
können. Panösterreich — das erbaute er
in Jungwien.
Heute wissen wir wie vielé junge
Kräfte Bahr damals entfesselt hat. Zu
seinen Lebzeiten wurde sein Buch über
„Wien“ konfisziert und viele Herren Ni¬
gert suchten ihm das Leben zu versauern.
Er ließ sich nicht stören, der erste Veter¬
ländische von europdischem Formct.
Stefan Großmern.
box 7/2
3. Das
„OBSERVER
I. österr. behördl. konzessioniertes
Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
WIEN, I., WOLLZELLE 11
TELEPHON R-23-0-43
Ausschnitt aus:
vom:
Der Morgen, Wien
Wien, 5. November 1934.
*
S
über:
Der vaterländische Bahr
Im Akademietheater spielt man seit
einigen Tagen wieder mit großem Er¬
#Kesser###von Hermann
Führ. In diesem Stück des großen
österreichischen Dichters tritt dos Werk
vor den Dichter. In der nachfolgenden
Skizze tritt der Dichter ver das Werk.
Der Mann, der die dritt- oder viert¬
millionste Beitrittskarte zur Voterländi¬
schen Front empfangen wird, kan: siner
goldenen Uhr mit feierlicher A#####iche
sicher sein. Dennoch ist es schis##n ge¬
wesen, der Erste als der Viermulionste
zu sein. Der erste bewußte Österreicher
unserer Epoche war vielleicht Her¬
mann Bahr. ich hatte als regelmäßi¬
ger, blutjunger Mitarbeiter der grauen
„Zeit“, der vorbildlichen Wochenschrift,
deren literarischen Teil er leitete, seine
Wandlung vom bummelnden Europder
zum angesiedelten und bewußten Öster¬
reicher in der Nähe mitansehen dürfen
und konnte ermessen, icas seine Wand¬
lung und Werdung ihn an inneren Kräf¬
ten gekostet hat. Er hatte jahrelang in
Paris, in Petersburg, in Berlin herum¬
zigeunert und war in diesen Jahren ein
guter Europder geworden. Aber als er so
in die Mitte der Dreißigerjahre kam,
hielt er es weder in Puris, noch in Ru߬
land, noch in den kahlen Cafés der
Friedrichstraße aus. Er übersiedelte nach
Wien, brachte in die „Deutsche Zeitung“
noch in den Neunzigerjahren das leben¬
digste Blatt Wiens, elektrisierendes Le¬
ben — besonders durch ein in Deutsch¬
land und Österreich orrangiertes Rund¬
interview über den Antisemitismus, das
nicht allein durch die Persönlichkeit der
Befragten, sondern auch durch die stilisti¬
schen Kühnheiten des Schreibers Auf¬
sehen machte. So beschrieb er einmal die
unerwartete Straßenbegegnung mit zwei
hübschen Mädchen auf dem Kurfürsten¬
damm, „aber in der Nühe waren ste aus
Wien“.
Je länger der Heimgekehrte in Wien
blieb, desto fester war er entschlossen,
eine literarische Richtung hier zu be¬
gründen. Er gab die Parole aus: „Jung¬
wien“ er schuf Jungwien. Dabei war
er nicht engherzig, er warb um die weise,
greise Ebner-Eschenbach und er
druckte in der „Zeit“ die letzte schöne
Novelle Ferdinand von Saars ab,
er würdigte die witzigen, mehr als witzi¬
gen Romane des Baron Torresani,
die den österreichischen Offizier von sei¬
ner heitersten Seite zeigen. Aber er kom¬
mandierte eines Tages auch, daß Wien
einen neuen Dichter, namens Loris, zus
bewundern habe, es war der damals nock
im Gumnasium werdende Hugo von Hof¬
mannsthal. Er sprach von Arthur dem
Dichter des „Anatol“ und erzwang eine
Aufführung seines ersten Stückes „Ein
Märchen“, in dem die junge Adele
Sandrock dem Wiener Dichter Artkur
Schnitzler dien#
Fähr Rannte sein vaterländisches
Unternehmen, dem die Spitze gegen Ber¬
lin nicht fehlte, „Jungwien“. Er war
nämlich trotz allem angeborenem Linzer¬
tum und später selbstbeiußtem Salzbur¬
gertum überzeugt, daß die geistigen Be¬
wegungen in den Großstädten wurzeln
und wachsen. So schön und s0 an¬
heimeind Salzburg ist, Bahr konnte es
erst beziehen, nachdem sein Jungwiener
Werk, das er zuletzt im Bunde mit den
Malern und Baumeistern einer neuen Ge¬
neration beendete, in Wien und vor ganz
Europa aufgegangen war. Von Ebensee
oder Hollabrunn, so schön sie liegen,
hätte er eine geistige Renaissance seines
Vaterlandes nicht in die Wege leiten
können. Panösterreich — das erbaute er
in Jungwien.
Heute wissen wir wie vielé junge
Kräfte Bahr damals entfesselt hat. Zu
seinen Lebzeiten wurde sein Buch über
„Wien“ konfisziert und viele Herren Ni¬
gert suchten ihm das Leben zu versauern.
Er ließ sich nicht stören, der erste Veter¬
ländische von europdischem Formct.
Stefan Großmern.