III, Einakter 11, Der tapfere Cassian. Puppenspiel in einem Akt (Generalprobe), Seite 19

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1. Der tapfere Cassian
/7“ Von dem Schnitzler=Speisezettel, den das „Kleine
Theater“ gestern Abend seinem Publikum darbieten
wollte, hat die Zensur, wie man weiß, das eine allzu
gewürzte Gericht gestrichen. Das „Haus Delorme“
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wurde anscheinend im Polizeipalast als ein „öffentliches
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Haus“ betrachtet, das der Oeffentlichkeit zu ent¬
ziehen sei.
Blieben übrig „Der tapfere Kassian“ der zum
ersten Mal gespielt wurde, und „Der grüne Kakadu“
der im „Deutschen Theater“ des Brahm=Zeitalters
flügge wurde. „Der tapfere Kassian“, auf dem
Theaterzettel als „Puppenspiel“ bezeichnet, erinnert
en die „Marionetten“, die Schnitzler seinerzeit auf
dem Ueberbrettl Wolzogens zappeln kließ. Man sah
damals eine Anzahl typischer Gestalten aus fran¬
zösischen Sittenstücken und anderen „minderwertigen“
Dramen, von Schauspielern und Schauspielerinnen
dargestellt, die wirkliche Drähte an den Händen hatten
und die eckig=grotesken Bewegungen der Marionetten
getreulich nachahmten. Das war in den ersten andert¬
halb Minuten furchtbar komisch; von da ab — zum
Einschlafen. Der Spaß dauerte viel zu lange, umt
kurzweilig zu sein. Außerdem fehlte der kräftige
Humor; es blieb bei einem rein mechanischen Spiel.
Mit dem tapferen Kassian“ führt uns Arthur
Schnitzler wieder ein Kasperle=Theater vor und
weckt damit Erinnerungen an die holde Kinderzeit in
unserer Brust. Aber ach, um wieviel lustiger und er¬
götzlicher war doch das burlesk=täppische Puppen¬
Theater, das man als Bengel draußen in Pankow bei
„Papa Linde“ bewundert hat.
Die Haupt=Hampelmatze der Schniglerschen
Kasperle=Komödie sind ein junger Abenteurer und
Bruder Luder¬
sein Vetter, ein
Spieler Martin,
und Manlheld Kassian und
jahn, Saufaus
empfindsames
Sophie, Martins Geliebte, ein
im Grunde ein kleiner
Bäh=Lämmchen, das
Tenfels=Braten ist. Martin hat die Tölpel des
Städtchens, in welchem er gastierte, genug gerupft
und will nun mit wohlgefülltem Ränzel weiterziehen,
um anderswo das Glück zu versuchen. In seiner
Mansarde weilt die holde Buhle bei ihm und dann geht
das Mädchen von hinnen, um das Abschiedsmahl zu
holen. Inzwischen stürmt der tapfere Kassian herein
und als Sophiechen zurückkehrt, enflammt sie wie ein
Streichhölzchen sofort für den rauhen Kriegers= und
Lügen=Mann aus der Lanzknechtszeit. Martin
verliert bei einem kleinen gemütlichen Jen all
seine Habe an Kassian und will schließlich
sogar das Mädchen aus dem Stätchen als
Einsatz benutzen. Die hüpft aber schon vor dem letzten!
Wurf auf die strammen Schenkel Vetter Kassiaus.
Grausiges Duell zwischen den beiden lieb¬
„Kousin, kannst Du noch?“
werten Vettern
Martin wird tötlich verletzt. In plötzlicher Ver¬
zweiflung springt Sophiechen zum Feuster
hinaus, Kassian ihr nach; und Martin haucht
seine schöne Spieler=Seele aus, nachdem er erst noch
ein kleines Flötensolo von sich gegeben. Alle Personen
dieser Hanswurstiade bewegen sich in Hampelmann¬
Manier, wenn sie auch diesmal keine wirklichen Drähte!
haben. Was wollte Schnitzler mit diesem Spaße erweisen?
Wollte er die Autoren verspotten, in deren Stücken
der schärfere Beobachter die „Menschen“ an den
Drähten zappeln sieht, die ein robuster Puppenspieler
in Bewegung setzt? Soll „der tapfere Kassian“ die



eine Parodie auf Schnitzlers „Abschiedssouper“
sein!?)
Durch den zweiten Teil des Abends wurde der
Dichter Schnitzler rehabilitiert. „Der grüne
Kakadu“ ist ein grandioser Einfall, ein glänzender
Wurf. Dieses in allen Farben grausamer Ironie
schillernde Spiel, dieses Gleiten zwischen Schein und
Leben, in das das dumpfe Grollen der nahenden
vor
hineintönt. Diese Schwüle
Revolution
dem losbrechenden Gewitter; und dann das
Ineinanderströmen von Komödie und Wirk¬
Schlu߬
lichkeit, der mächtige, dramatische
Orgelton. Bei der gestrigen Darbietung stellte sich!
noch eine merkwürdige Nebenempfindung ein. Dieser
Pfeudo=Verbrecherkeller zum „grünen Kakadu“ ist ja
eine Art von revolutionarem Ueberbrettl oder

Unterbrettl — oder Kabaret, wenn man will. Sogar:
der Tanten=Mörder fehlt nicht; allerdings kein Frank
Wedekindscher, sondern ein wirklicher.
Die Aufführung hinterließ einen tiefen Eindruck.
Am stärksten wirkte auf mich der Heuri Alexander
[Moissis. In der erst glimmenden und glühenden,
dann lodernden Leidenschaftlichkeit dieses Darstellers
lag etwas Unheimlich=Ekstatisches. Der lächelnden,
tändelnden, naiven Verderbtheit der Eysoldtschen
Léocadie gegenüber stand die raffinierte, mondäue
Lüsternheit der Séverine Tilla Durieuxs.
Wie sich diese rassige Künstlerin zum Schluß
mit Raubtier=Blicken über den verröchelnden Herzog
von Cadignan hinabbeugt, das war von gräusiger
Echtheit. Für solche kaltschnäuzigen Lebe=ducs ist
Herr von Winterstein ein vortrefflicher Dar¬
steller. Herr Ekert, der den Rollin gab, scheint
zu glauben, daß ein Dichter im Leben möglichst un¬
natürlich sprechen muß. Von absoluter Wahrheit
Strolch Grain
der
und groteskem Humor
Eugen Burgs. Von beweglicher Lebendig¬
keit der Spelunken=Wirt Richard Leopolds.!
Das Zusammenspiel unter Richard Vallentins
Leitung war ausgezeichnet und erreichte in der
Schluß=Szene seinen überwältigenden Höhepunkt.
Der Vorhang war längst gefallen. Ein großer
Teil des Publikums blieb im Saale und klatschte,
trampelte unermüdlich, bis endlich Schnitzler erschien
und sich verneigte, etwas müde=resigniert, in der
schwarzen Atlas=Würge=Kravatte, jeder Zoll ein Poet,
aber in tadelloser Eleganz. Ich mußte an die köst¬
liche Szene in Murgers „Vie de Bohème“ denken,
wo einer der tollen Gesellen, auf den an einem Neben¬
tisch in schäbiger Kleidung speisenden Colline deutend,
sagt:
„Das scheint ein Schriftsteller zu sein!“
Und ein Kamerad aus der Runde antwortet:
„Du moins il en a l’habit!“
B. J.)