III, Einakter 11, Der tapfere Cassian. Puppenspiel in einem Akt (Generalprobe), Seite 20

1. Der tapfere Cassian
1!“ Von dem Schnitzler=Speisezettel, den das „Kleine
Theater“ gestern Abend seinem Publikum darbieten
Awollte, hat die Zensur, wie man weiß, das eine allzu
gewürzte Gericht gestrichen. Das „Haus Delorme“
wurde anscheinend im Polizeipalast als ein „öffentliches
00
Haus“ betrachtet, das der Oeffentlichkeit zu ent¬
ziehen sei.
Blieben übrig „Der tapfere Kassian“ der zum
ersten Mal gespielt wurde, und „Der grüne Kakadu“
der im „Deutschen Theater“ des Brahm=Zeitalters
flügge wurde. „Der tapfere Kassian“, auf dem
Theaterzettel als „Puppenspiel“ bezeichnet, erinnert
an die „Marionetten“, die Schnitzler seinerzeit auf
dem Ueberbrettl Wolzogens zappeln kließ. Man sah
damals eine Anzahl typischer Gestalten aus fran¬
zösischen Sittenstücken und anderen „minderwertigen“
Dramen, von Schauspielern und Schauspielerinnen
dargestellt, die wirkliche Drähte an den Händen hatten
und die eckig=grotesken Bewegungen der Marionetten
getreulich nachahmten. Das war in den ersten andert¬
halb Minuten furchtbar komisch; von da ab — zum
Einschlafen. Der Spaß dauerte viel zu lenge, um
kurzweilig zu sein. Außerdem fehlte der kräftige
Humor; es blieb bei einem rein mechanischen Spiel.
Mit dem „tapferen Kassian“ führt uns Arthur
Schnitzler wieder ein Kasperle=Theater vor und
weckt damit Erinnerungen an die holde Kinderzeit in
box 34/10
erliner Börsen-C
Mittwoch, 23. November 1904.
Unnatur und Hyperromantik geisseln? Das mag die löb¬
liche Absicht gewesen sein. Aber auch diesmal stellte
sich nur eine äußerliche schnell sich verflüchtende
Komik ein. Köstlich war nur die Eysoldt in ihrer
hölzernen Sentimentalität und in ihrer hölzernen!
Sinnlichkeit. Gequält wie das Spiel war auch das
Lachen der Hörer. Die Geschichte ging aus wie ein
Räucherkerzchen. Ein ganz sanftes Appläuschen und
ein ganz leises Zischen. (Mir kommt eben eine
geniale Idee! Vielleicht soll „Der tapfere Kassian“
eine Parodie auf Schnitzlers „Abschiedssouper“
sein!?)
Durch den zweiten Teil des Abends wurde der
„Der grüne
Dichter Schnitzler rehabilitiert.
Kakadu“ ist ein grandioser Einfall, ein glänzender
Wurf. Dieses in allen Farben grausamer Ironie
schillernde Spiel, dieses Gleiten zwischen Schein und
Leben, in das das dumpfe Grollen der nahenden
Diese Schwüle vor
Revolution, hineintönt.
dem losbrechenden Gewitter; und dann das
Ineinanderströmen von Komödie und Wirk¬
Schlu߬
mächtige, dramatische
lichkeit, der
Orgelton. Bei der gestrigen Darbietung stellte sich
noch eine merkwürdige Nebenempfindung ein. Dieser
Pfeudo=Verbrecherkeller zum „grünen Kakadu“ ist ja
eine Art von revolutionärem Ueberbrettl oder
Unterbrettl — oder Kabaret, wenn man will. Sogar
der Tanten=Mörder fehlt nicht; allerdings kein Frank
Wedekindscher, sondern ein wirklicher.
Die Aufführung hinterließ einen tiefen Eindruck.
Am stärksten wirkte auf mich der Heuri Alexander!
[Moissis. In der erst glimmenden und glühenden,
dann lodernden Leidenschaftlichkeit dieses Darstellers
lag etwas Unheimlich=Ekstatisches. Der lächelnden,
tändelnden naiven Verderbtheit der Eysoldtschen
Léocadie gegenüber stand die raffinierte, mondäue
Lüsternheit der Séverine Tilia Durieuxs.
Wie sich diese rassige Künstlerin zum Schluß
mit Raubtier=Blicken über den verröchelnden Herzog!
von Cadignan hinabbeugt, das war von gräusiger
Echtheit. Für solche kaltschnäuzigen Lebe=ducs ist
Herr von Winterstein ein vortrefflicher Dar¬
steller. Herr Ekert, der den Rollin gab, scheint
zu glauben, daß ein Dichter im Leben möglichst un¬
natürlich sprechen muß. Von absoluter Wahrheit
Strolch Grain
und groteskem Humor der
Eugen Burgs. Von beweglicher Lebendig¬
keit der Spelunken=Wirt Richard Leopolds.
Das Zusammenspiel unter Richard Vallentinss
Leitune war ausgezeichnet und erreichte in der
Schluß=Szene seinen überwältigenden Höhepunkt.
Der Vorhang war längst gefallen. Ein großer!
Teil des Publikums blieb im Saale und klatschte,
trampelte unermüdlich, bis endlich Schnitzler erschien
und sich verneigte, etwas müde=resigniert, in der
schwarzen Atlas=Würge=Kravatte, jeder Zoll ein Poet,
aber in tadelloser Eleganz. Ich mußte an die köst¬
liche Szene in Murgers „Vie de Bohème“ denken,
wo einer der tollen Gesellen, auf den an einem Neben¬
tisch in schäbiger Kleidung speisenden Colline deutend,
sagt:
„Das scheint ein Schriftsteller zu sein!“
Und ein Kamerad aus der Runde antwortet:
„Du moins il en a l'habit!“
B. J.)