2. Benerkungen
Bemerkungen.
Von Arthur Schnitzler.—
Es ist übel in der Welt eingerichtet, daß
auch die größten Künstler nur zeitweise ihr
ganzes Genie zur Verfügung haben, daß sich
aber auch die kleinsten Schurken in ununter¬
brochenem Besitz ihres Charakters befinden.
Wer Humor hat, der hat beinahe schon
Genie. Wer nur Witz hat, der hat meistens
nicht einmal den.
Im heiteren Drama pflegen die Autoren
meist nur die Mängel ihres Charakters, in
ernsten die ihres Verstandes zu verralen.
Nur derjenige Künstler vermag ein
reines Dasein in der Welt zu führen und zu¬
gleich reinliche, künstlerische Arbeit zu leisten,
der sich zu den von ihm geschaffenen Gestalten
in ein menschliches und zu den Menschen,
mit denen er lebt, in ein künstlerisches Ver¬
hältnis zu setzen weiß.
Das Publikum ist viel gescheiter als es
selber glaubt. Aber man darf es ihm nicht
verraten, denn sonst wird es noch frecher als
es ist.
(Aus dem soeben zur Ausgabe gelan¬
genden „Almanach des Deutschen
Volkstheaters“ (Verlag E. P. Tal &
Comp.), der viele Beiträge toter und lebender
österreichischer Autoren enthält.)
box 35/2
8.
Dr. Max Goldschn.
Suro für Zeitungsausschm,
Teleion: N
BERLIN N4
Perliner BHörsenzeitung
6. Mart 1926
Bemerkungen.
Von
Arthur Schnitzler.
Ein Chor von bedeutenden Persönlichkeiten der ver¬
schiedenen Länder, Bölker und Rassen hat sich in dem im
Rotapfel=Verlag zu Zürich erschienenen „Liber Amicorum
Romain Rolland“ vereinigt, um dem großen Dichter, Denker
und Menschen ihre Huldigung darzubringen. Wir geben
hier den besonders kennzeichnenden Beitrag Schnitzlers
wieder.
Die Schriftltg.
Jeder Weliverbesserungsversuch, der von der Voraus¬
setzung ausgeht, daß die Menschheit im ethischen Sinne
überhaupt entwicklungsfähig oder gar ursprünglich gut sei,
ist zum Scheitern verurteilt. Die Auffassung von der ur¬
sprunglichen Güte des Menschen ist durchaus sentimental,
daher unfruchtbar, wenn nicht gar gefährlich; und noch
törichter womöglich ist die, daß Leute die an die Menschheit
glauben, an sich schon von edlerer Art seien als solche, die
keineswegs an die Menschheit, sondern nur von Fall zu Fall
an den Menschen glauben.
Jede in sich geschlossene Menschengruppe stellt eine
dumpfe, doch jedem Einfluß zugängliche Masse dar, aus der
unter der Einwirkung nicht nur von Ereignissen, sondern
auch von Schlagworten das Verschiedenartigste zu machen
ist, zum mindesten das scheinbar Verschiedenartigste:
Heldenscharen und Horden blutrünstiger Bestien; Patrioten
oder Hochverräter; und ganz die gleichen Individuen
können es sein und sind es manchmal, die gestern ihrem
Monarchen zugejubelt haben und heute dem Henker zu¬
jauchzen, der ihnen das abgeschlagene Haupt des Gerichteten
entgegenhält, der gestern ihr König war. Diese Leute
wetterwendisch, heuchlerisch, verräterisch zu nennen, bedeutet
nicht so sehr eine Ungerechtigkeit als eine Ueberschätzung.
Denn verschwindend klein ist die Anzahl der Menschen, die
zu irgendeinem Prinzip, zu irgendeiner Sache, zu irgend¬
einem anderen Menschen — es bestünden denn Bande des
eine echte,
Blutes oder Interessengemeinschaften
aprioristische, verstandes= oder gefühlsmäßige Beziehung
haben.
Fast fühlt man sich versucht, jede in sich geschlossene
Menschengruppe nicht als eine Summe von Individuen,
sondern als ein Element zu betrachten; — ein Element,
wie Feuer, Wasser. Luft, Erde. Und Aufgabe des Menschen
wird es immer sein, die Menschheit ebenso wie er es mit
anderen Elementen mehr oder weniger erfolgreich immer
wieder versucht, den höheren Zwecken der Entwicklung
dienstbar zu machen.
Aus Menschenverachtung in die Einsamkeit flüchten
oder sich völlig auf und in sich selbst zurückzuziehen, ist
selten ein Zeichen von Kraft und Größe, weit öfter von
Trägheit oder Hochmut. Menschenliebe zu predigen —
keineswegs immer ein Beweis von Güte oder Weisheit,
sondern öfter von Rührseligkeit, wenn nicht gar Geistes¬
schwäche. Würdiger des Einzelnen, als zu vergchten, nütz¬
icher für die Gesamiheit, als sie zu lieben, ist es, daß jeder
seiner naturgewollten Dazugehörigkeit und der hieraus
olgenden Pflichten sich bewußt werde und danach handle.
mv
— — *
Bemerkungen.
Von Arthur Schnitzler.—
Es ist übel in der Welt eingerichtet, daß
auch die größten Künstler nur zeitweise ihr
ganzes Genie zur Verfügung haben, daß sich
aber auch die kleinsten Schurken in ununter¬
brochenem Besitz ihres Charakters befinden.
Wer Humor hat, der hat beinahe schon
Genie. Wer nur Witz hat, der hat meistens
nicht einmal den.
Im heiteren Drama pflegen die Autoren
meist nur die Mängel ihres Charakters, in
ernsten die ihres Verstandes zu verralen.
Nur derjenige Künstler vermag ein
reines Dasein in der Welt zu führen und zu¬
gleich reinliche, künstlerische Arbeit zu leisten,
der sich zu den von ihm geschaffenen Gestalten
in ein menschliches und zu den Menschen,
mit denen er lebt, in ein künstlerisches Ver¬
hältnis zu setzen weiß.
Das Publikum ist viel gescheiter als es
selber glaubt. Aber man darf es ihm nicht
verraten, denn sonst wird es noch frecher als
es ist.
(Aus dem soeben zur Ausgabe gelan¬
genden „Almanach des Deutschen
Volkstheaters“ (Verlag E. P. Tal &
Comp.), der viele Beiträge toter und lebender
österreichischer Autoren enthält.)
box 35/2
8.
Dr. Max Goldschn.
Suro für Zeitungsausschm,
Teleion: N
BERLIN N4
Perliner BHörsenzeitung
6. Mart 1926
Bemerkungen.
Von
Arthur Schnitzler.
Ein Chor von bedeutenden Persönlichkeiten der ver¬
schiedenen Länder, Bölker und Rassen hat sich in dem im
Rotapfel=Verlag zu Zürich erschienenen „Liber Amicorum
Romain Rolland“ vereinigt, um dem großen Dichter, Denker
und Menschen ihre Huldigung darzubringen. Wir geben
hier den besonders kennzeichnenden Beitrag Schnitzlers
wieder.
Die Schriftltg.
Jeder Weliverbesserungsversuch, der von der Voraus¬
setzung ausgeht, daß die Menschheit im ethischen Sinne
überhaupt entwicklungsfähig oder gar ursprünglich gut sei,
ist zum Scheitern verurteilt. Die Auffassung von der ur¬
sprunglichen Güte des Menschen ist durchaus sentimental,
daher unfruchtbar, wenn nicht gar gefährlich; und noch
törichter womöglich ist die, daß Leute die an die Menschheit
glauben, an sich schon von edlerer Art seien als solche, die
keineswegs an die Menschheit, sondern nur von Fall zu Fall
an den Menschen glauben.
Jede in sich geschlossene Menschengruppe stellt eine
dumpfe, doch jedem Einfluß zugängliche Masse dar, aus der
unter der Einwirkung nicht nur von Ereignissen, sondern
auch von Schlagworten das Verschiedenartigste zu machen
ist, zum mindesten das scheinbar Verschiedenartigste:
Heldenscharen und Horden blutrünstiger Bestien; Patrioten
oder Hochverräter; und ganz die gleichen Individuen
können es sein und sind es manchmal, die gestern ihrem
Monarchen zugejubelt haben und heute dem Henker zu¬
jauchzen, der ihnen das abgeschlagene Haupt des Gerichteten
entgegenhält, der gestern ihr König war. Diese Leute
wetterwendisch, heuchlerisch, verräterisch zu nennen, bedeutet
nicht so sehr eine Ungerechtigkeit als eine Ueberschätzung.
Denn verschwindend klein ist die Anzahl der Menschen, die
zu irgendeinem Prinzip, zu irgendeiner Sache, zu irgend¬
einem anderen Menschen — es bestünden denn Bande des
eine echte,
Blutes oder Interessengemeinschaften
aprioristische, verstandes= oder gefühlsmäßige Beziehung
haben.
Fast fühlt man sich versucht, jede in sich geschlossene
Menschengruppe nicht als eine Summe von Individuen,
sondern als ein Element zu betrachten; — ein Element,
wie Feuer, Wasser. Luft, Erde. Und Aufgabe des Menschen
wird es immer sein, die Menschheit ebenso wie er es mit
anderen Elementen mehr oder weniger erfolgreich immer
wieder versucht, den höheren Zwecken der Entwicklung
dienstbar zu machen.
Aus Menschenverachtung in die Einsamkeit flüchten
oder sich völlig auf und in sich selbst zurückzuziehen, ist
selten ein Zeichen von Kraft und Größe, weit öfter von
Trägheit oder Hochmut. Menschenliebe zu predigen —
keineswegs immer ein Beweis von Güte oder Weisheit,
sondern öfter von Rührseligkeit, wenn nicht gar Geistes¬
schwäche. Würdiger des Einzelnen, als zu vergchten, nütz¬
icher für die Gesamiheit, als sie zu lieben, ist es, daß jeder
seiner naturgewollten Dazugehörigkeit und der hieraus
olgenden Pflichten sich bewußt werde und danach handle.
mv
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