IV, Gedichte und Sprüche 4, Der Geist im Wort und der Geist in der Tat, Seite 2

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Wir können allgemeine und spezifische Be¬
gabungen unterscheiden.
Die allgemeinen Begabungen könnte man auch als
allgemeine Anlagen intellektueller Natur bezeichnen, wie z. B.
Fleiß, Phantasie, Scharfsinn — im Gegensatz zu den Anlagen
ethischer Natur, den eigentlichen Charakteranlagen, wie z. B.
Güte, Gerechtigkeit, Grausamkeit usw.
Bei manchen allgemeinen Anlagen wird es sich schwer ent¬
scheiden lassen, ob sie eher den Anlagen intellektueller oder
den Anlagen ethischer Natur zuzuzählen sind (z. B. Schlauheit).
Die allgemeinen Begabungen sind in Hinsicht auf die Ge¬
samtpersönlichkeit oft bedeutungsvoller als die spezifischen
Begabungen und je nach ihrem Grade auch mehr oder minder
bestimmend für die Entwicklungsmöglichkeiten einer spezifi¬
schen Begabung. So wird z. B. die Phantasie fördernd
auf die dichterische, der Scharfsinn auf die philosophische Be¬
gabung wirken usw.
Eine allgemeine Begabung darf nicht verwechselt werden
mit einer vielseitigen Begabung, worunter wir bekanntlich
das Vorkommen mehrerer verschiedenartiger spezifischer Be¬
gabungen in einem und demselben Individuum verstehen.
Bestimmte allgemeine Begabungen zeigen geradeso wie be¬
stimmte spezifische Begabungen Affinitäten zu bestimmten
Geistesverfassungen. So wird z. B. die sogenannte diplo¬
matische Begabung sich besonders häufig beim Staatsmann
und Politiker finden.
Als Beispiele für spezifische Begabungen seien für
hundert andere hier vorläufig nur die dichterische, schrift¬
stellerische, rhetorische, staatsmännische, politische angeführt.
Man merkt hier nicht zum erstenmal, daß für manche Arten
von spezifischer Begabung gleiche Bezeichnungen gebraucht
werden, wie sie für Typen von Geistesverfassungen angewen¬
det wurden. Und gerade der Umstand, daß wir für eine be¬
stimmte spezifische Begabung und für eine bestimmte Geistes¬
verfassung häufig das gleiche Wort haben, gibt zu Irrtümern
und Fehldiagnosen oft verhängnisvollen Anlaß. Aber dich¬
aterische Geistesverfassung und dichterische Begabung, journa¬
listische Geistesverfassung und journalistische Begabung usw.
sind keineswegs dasselbe, und gerade so wie Geistesverfassun¬
gen und Berufsarten müssen auch Geistesverfassungen und
Begabungen, auch wo gleiche Bezeichnung für beide angewen¬
det wird, streng unterschieden werden.
Die spezifischen Begabungen sind wohl durchaus an¬
geboren, müssen aber keineswegs in jedem Falle zur Ent¬
wicklung, ja, müssen nicht einmal zur Erscheinung kommen.
Aeußere Einflüsse, persönliche Schicksale können ihre Ver¬
kümmerung oder auch ihre Vervollkommnung zur Folge
haben.
Gewisse Affinitäten zwischen bestimmten Geistesverfassungen
und bestimmten Begabungen leuchten ohne weiteres ein, wie
z. B. die zwischen einer spezifisch dichterischen Begabung und
der dichterischen Geistesverfassung. Doch auch hier handelt es
sich immer nur um Affinität, nicht um notwendige Beziehung
oder gar um Identität. Es kann gelegentlich ein sehr hohes
Maß dichterischer Begabung vorliegen, ohne daß das betref.
fende Individuum als Repräsentant des Typus Dichter zu
bezeichnen wäre, wie wir andererseits wieder echten Reprä¬
sentanten des Typus Dichter von geringerdichteri¬
scher Begabung begegnen.
So gibt es dichterisch höchst begabte Schriftsteller, die der
Geistesverfassung nach nicht als Dichter, sondern als Historiker
(Kontinualisten) zu bezeichnen wären; es gibt auch dichterische
Begabungen (besonders solche mit vorwiegend psychologischer
Einstellung), die der Geistsverfassung nach dem Typ Natur¬
forscher angehören, und es gibt Dichter zuweilen hohen Ran¬
ges, die dem Typus Prophet zuzuzählen sind.
Im negativen Gebiet sind die Affinitäten zwischen be¬
stimmten Geistesverfassungen und den entsprechenden Be¬
gabungen deutlicher und stärker ausgeprägt als im positiven
Gebiet. Es gibt z. B. Repräsentanten des Typus Staats¬
mann mit mäßiger staatsmännischer, — Repräsentanten des
Typus Politiker mit hoher politischer Begabung. Und so
kann es geschehen, daß der hochbegabte Politiker für einen
#####en Staatsmann, der mäßig begabte Staatsmann für
einen schwachen Politiker gehalten wird.
Die individuelle geistige Leistung wird im allgemeinen um
so erheblicher sein, eine je ausgeprägtere Affinität zwischen
der angeborenen Geistesverfassung und der spezifischen Be¬
gabung besteht und je höher diese spezifische Begabung ent¬
wickelt ist.
Es braucht nicht erst darauf hingewiesen zu werden, daß
eine ganze Reihe von Begabungen, z. B. die musikalische,
h
innerhalb dieser Ausführungen keinen Platz finden, die sich
nur mit dem Geist im Wort und mit dem Geist in der Tat
befassen. Selbstverständlich aber gibt es auch unter den
Musikern Geistesmenschen, d. h. Repräsentanten irgendeiner
Geistesverfassung, wie wir andererseits oft genug, auch unter
den Angehörigen der sogenannten geistigen Berufe, Menschen)
finden, die nicht den Geistesmenschen zuzuzählen sind.