IV, Gedichte und Sprüche 4, Der Geist im Wort und der Geist in der Tat, Seite 3

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. Der Geist in Vort und der Istinderlat
Dr. Max Goldschmidt
Büro für Zeitungsausschnitte
BERLIN N 4
Telefon: Norden 3051
Neue Badische Landeszeilung, Mannheim
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29. Jan. 1924
journalistische Geistesverfassung und journalistische Bega¬
bung usw. sind keineswegs dasselbe, und gerade so wie
Geistesverfassungen und Berufsarten müssen auch Geistes¬
Begabung.
verfassungen und Begabungen, auch wo gleiche Bezeichnung
Von
für beide angewendet wird, streng unterschieden werden.
Die spezisischen Begabungen sind wohl durchaus angey
Arthur Schnitle.
boren, müssen aber keineswegs in jedem Falle zur Ent
Machfolgenden Aufsatz entnehmen wir
wicklung, ja, müssen nicht einmal zur Erscheinung kommen
einer in diesen Tagen bei S. Fischer erschie¬
Aeußere Einflüsse, persönliche Schicksale können ihre Ver¬
neuen kleinen Schrift von Arthur Schnitzler:
kümmerung oder auch ihre Vervollkommnung zur Folge
„Der Geist im Wort und der Geist
haben.
ver¬
in der Tat“, in welcher der Dick
Gewisse Affinitäten zwischen bestimmten Geistesverfas¬
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sucht in der Repräsentation der Gei
sungen und bestimmten Begabungen leuchten ohne weiteres
Tatmenschen die Urtypen menschlichen stes
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ein, wie z. B. die zwischen einer spezifisch dichterischen Be¬
zu schildern.
gabung und der dichterischen Geistesverfussung. Doch auch
hier handelt es sich immer nur um Affinität, nicht um
Wir können allgemeine und spezisische Be¬
notwendige Beziehung oder gar um Identität. Es kann
gabungen unterscheiden.
gelegentlich ein sehr hohes Maß dichterischer Begabung vor¬
Die allgemeinen Begabungen könnte man auch
liegen, ohne daß das betreffende Individuum als Repräsen¬
als allgemeine Anlagen intellektueller Natur bezeichnen, wie
tant des Typus Dichter zu bezeichnen wäre, wie wir anderer¬
z. B. Fleiß, Phantasie, Scharfsinn — im Gegensatz zu den
seits wieder echten Repräsentanten des Typus Dichter von
Anlagen ethischer Natur, den eigentlichen Charakteranlagen,
geringer dichterischer Begabung begegnen.
wie z. B. Güte, Gerechtigkeil, Grausamkeit usw.
So gibt es dichterisch höchst begabte Schriftsteller, die
Bei manchen allgemeinen Anlagen wird es sich schwer
der Geistesverfassung nach nicht als Dichter, sondern als:
entscheiden lassen, ob sie eher den Anlagen intellektueller
Historiker (Kontinnalisten) zu bezeichnen wären; es gibt auch
den Anlagen ethischer Natur zuzuzählen sind (z. B.
dichterische Begabungen (besonders solche mit vorwiegend
Schlauheit).
psychologischer Einstellung), die der Geistesverfassung nach
Die allgemeinen Begabungen sind in Hinsicht auf die
dem Typ Naturforscher angehören, und es gibt Dichter zu¬
Gesamtpersönlichkeit oft bedeutungsvoller als die spezifi¬
weilen hohen Ranges, die dem Typus Prophet zuzuzähten
schen Begabungen, und je nach ihrem Grade auch mehr
sind.
oder minder bestimmend für die Entwicklungsmöglichkeiten
Im negativen Gebiet sind die Affinitäten zwischen
einer spezifischen Begabung. So wird z. B. die Phan¬
bestimmten Geistesverfassungen und den entsprechenden Be¬
tasie fördernd auf die dichterische, der Scharffirn auf die
gabungen deutlicher und stärker ausgeprägt als im positiven!
philosophische Begabung wirken usw.
Gebiet. Es gibt z. B. Repräsentanten des Typus Staats¬
Eine allgemeine Begabung darf nicht verwechselt wer¬
mann mit mäßiger staatsmännischer, — Repräsentanten des
den mit einer vielseitigen Begabung, worunter wir bekannt¬
Typus Politiker mit hoher politischer Begabung. Und so
lich das Vorkommen mehrerer verschiedenartiger spezisischer
kann es geschehen, daß der hochbegabte Politiker für einen
Begabungen in einem und demselben Individuum verstehen.
großen Staatsmann, der mäßig begabte Staatsmann für
Bestimmte allgemeine Begabungen zeigen geradeso wie
einen schwachen Politiker gehalten wird.
bestimmte spezifische Begabungen Affinitäten zu bestimmten
Die individuelle geistige Leistung wird im allgemeinen
B. die sogenannte diplo¬
Geistesverfassungen. So wird z.
um so erheblicher sein, eine je ausgeprägtere Affinität zwi¬
matische Begabung sich besonders häufig beim Staats¬
schen der angeborenen Geistesverfassung und der spezifischen
mann und Politiker finden.
Begabung besteht und je höher diese spezifische Begabung
Als Beispiele für spezifische Begabungen seien für
ist.
entwickelt
hundert andere hier vorläufig nur die dichterische, schrift¬
Es braucht nicht erst darauf hingewiesen zu werden, daß
stellerische, rhetorische, staatsmännische, politische angeführt
eine ganze Reihe von Begabungen, z. B. die musikalische,
Man merkt hier nicht zum erstenmal, daß für manch
innerhalb dieser Ausführungen keinen Platz finden, die sich
Arten von spezifischer Begabung gleiche Bezeichnungen ge¬
nur mit dem Geist im Wort und mit dem Geist in der Tat
braucht werden, wie sie für Typen von Geistesverfassungen
befassen. Selbstverständlich aber gibt es auch unter den
angewendet wurden. Und gerade der Umstand, daß wir für
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Musikern Geistesmenschen. d. h. Repräsentanten irgendeiner“
eine bestimmte spezifische Begabung und für eine bestimmta
Geistesverfassung, wie wir andererseits oft genug, auch unter
Geistesverfassung häufig das gleiche Wort haben, gibt zu
den Angehörigen der sogenannten geistigen Berufe Menschen;
Irrtümern und Fehldiagnosen oft verhängnisvollen Anlaß.
Aber dichterische Geistesverfassung und dichterische Begabung, finden, die nicht den Geistesmenschen zuzuzählen sind.