IV, Gedichte und Sprüche 5, Bemerkungen mit Fragezeichen, Seite 2

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Benerkungen Fragt
Mystik —?
Den Verlauf einer Infektionskrankheit im menschlichen Körper
dürfen wir uns vielleicht als die Geschichte eines Geschlechts von
Bazillen vorstellen, sein Entstehen, Blühen und Vergehen; —
Geschichte so gut, wie die Geschichte des Menschengeschlechtes,
freilich in anderen Maßen, aber doch der Idee nach das gleiche.
Solch ein Bazillengeschlecht lebr im Blut, in der Lymphe, im
Gewebe eines menschlichen Individuums; dieser von unserem Stand¬
punkt aus erkrankte Mensch ist ihre Landschaft, ihre Welt; und daß
jene kleinsten Individuen unbewußt und absichtslos diese ihre Welt
zu vernichten streben und oft wirklich vernichten, ist Bedingung,
Notwendigkeit, Sinn ihres Daseins. (Wer weiß, ob die ein¬
zelnen Individuen eines solchen Bazillengeschlechtes nicht geradeso
wie die menschlichen Individuen von höchst verschiedener Begabung
und Willensstärke sind und ob es nicht aber unter ihnen Alltags¬
bazillen und Genies gibt?) Wäre es nun nicht denkbar, daß auch
die Menschheit für irgendeinen höheren, uns als Ganzes unfaßbaren
Organismus, innerhalb dessen sie Bedingung, Notwendigkeit und
Sinn ihres Daseins findet, eine Krankheit bedeutet und daß sie
jenen Organismus zu zerstören sucht und endlich, je höher sie sich
entwickelt, zerstören muß — geradeso wie das Bazillengeschlecht
das „erkrankte“ menschliche Individuum zu vernichten trachter!
Und dürfen wir nicht weiter fragen, ob es nicht vielleicht die Auf¬
gabe jeder lebendigen Gemeinschaft bedeutet, sei es Bazillengeschlecht,
sei es Menschheit, die ihr übergeordnete Welt — sei dies ein mensch¬
liches Individuum, sei es das Universum — allmählich zu vernichten?
Auch wenn diese Annahme der Wahrheit nahe käme — unser
Vorstellungsvermögen wüßte damit nichts anzufangen; denn unser
Geist ist nur fähig, das Absteigende, Tiefere, niemals aber das
Aufsteigende, Höhere zu erfassen; nur das Niedere kann von
uns relativ gewußt, doch das Höhere von uns immer nur ge¬
ahnt werden. In diesem Sinne darf man die Geschichte der Mensch¬
heit vielleicht als ihren ewigen Kampf gegen das Göttliche begreifen,
das trotz allen Widerstandes allmählich doch mit Notwendigkeit
durch das Menschliche vernichtet wird; und diesem Gedankengang
folgend dürfen wir vielleicht annehmen, daß diesem uns göttlich
erscheinenden oder als göttlich geahnten uns übergeordneten Eiement
ein noch höheres übergcordnet ist, und so immer weiter bis in die
Unendlichkeit.