V, Textsammlungen 1, Die Frau des Weisen. Novelletten, Seite 8

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Unter den Deutscheu ist der begabteste und lebenswahrste Nachahmer
des französischen Liebesrealismus nicht etwa der formlos verwilderte,
affektierte Wiener Journalist Hermann Bahr, sondern sein ungleich
geschmackvollerer Compatriot Arthur Schnitzler, der Verfasserder uns
bekannten ergreifenden Mädchentragödie „Liebelei“ und eines m ullen
großen Städten stark goutierten Gesellschaftsbildes „Freiwild“. In ein
Bändchen, betitelt „Anatol“ (bei S. Fischer. Berlin), hat er ein halbes
Dutzend dialogischer Scenen versammelt, die nicht birert für das Theater
gedacht und gemacht sind, aber in einem feingeistigen vornehmen Salon von
genialen Dilettanten geplaudert, allesamt einen entzückenden Eindruck
machen müßten. Anatol, der weichliche, nur vom Parfüm der Weiber
lebende Wiener, der immer vor Liebe, Sentimentalität und Eifersucht
brennt, sich selbst aber jede Art von Untreue vorbehält, ist der Held
sämtlicher Scenen. Zu ihm gesellt sich jedesmal eine andere Geliebte,
bald im Wiedersehen, bald im Genuß, bald im Abschiednehmen, und neben
beiden steht dann meist als Raisonneur der geistreiche, skeptische Freund.
Das pikante „Abschiedssouper“ ist von der Sandrock in Berlin mit
enormem Erfolg kühn auf die Bühne geworfen worden, und hinterher
hat man dort auch die elegante hypnotische Satire „Eine Frage an
das Schicksal“ dem Theaterpublikum vorgeführt. Aber selbst nur
gelesen können diese fein geschliffenen, kecken Dialoge ihre Wirkung
nicht verfehlen. — Als reiner Novellist tritt uns dieser sehr talentvolle
Autor in einem Bändchen Novelletten desselben Verlages entgegen,

welches nach seiner Eröffnungsnummer den Titel „Die
“ trägt. Diese erste, welche von der Liebe einer Oberfehrer¬¬
#emem Schüler handelt, ist nicht die anziehendste. überhaupt
scheidet den Deutschen von seinen französischen Vorbildern die Em¬
pfindsamkeit, sozusagen das Gewissen, welches die gesunden
Farben der doch nun einmal nicht zu verschminkenden Natur
wie mit einem melancholischen Spinnwebschleier überzieht. Etwas
ergreifendes hat die Novelle „Ein Abschied“: Der junge Lebemann er¬
wartet Tag um Tag sein Liebchen und findet es vom Tode dahin¬
gerafft als Leiche im Hause des ahnungslos betrogenen Gatten — und
die seelisch verwandte Novelle „Die Toten schweigen“, deren tragische
Moral tief in die nächtlichen Bezirke der Menschenseele hinableuchtet.
Vom Büchertisch. Arthur Schnitzler: „Die Frau des
Weisen.“ Novellen. (Berlin, S. Fischer.) Keine Novellen im
üblichen Sinne, sondern mehr Satiren, Anklagen gegen jene
wohlanständiger, seiner Leute, die dem Kitzel der Sünde
halten, aber um jeden Preis vor dem herrschenden Sittencok
stehen wollen: Leute, die im Kampfe zwischen Sinnlichkei
tioneller Lüge haltlos hin und her treiben. Da ist der M
der Geliebten flieht, weil er eine primanerhafte Scheu vor ih
seinem früheren Schuldirector, empfindet; wir sehen den Liebha
Frau, die ihm Alles gegeben, auf ihrem Todtenlager feig im S
Ein drittes Bild zeigt uns den selbstgefälligen Genußmenschen,
Nebenbuhler, einen kleinen Schauspieler, durch eine gemeine Intr
Lächerlichkeit Preis giebt und in den Tod treibt. Da ist endl
Weib, das den tödtlich verletzten Liebhaber in Nacht und Sturm a
Landstraße verläßt und aus Furcht vor einem Eclat reumüthig zu
Gatten zurückkehrt. Es sind wenig sympathische Gestalten, Träger jer
Moral der Heimlichkeit, Leute, deren größte Tugend ihre reine
Wäsche ist.
Anislaun Angen- deth
26/8.19
W, K