V, Textsammlungen 1, Die Frau des Weisen. Novelletten, Seite 10

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Nummer 221.
München, Freitag, 30. September.
Jahrgang 1898.

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Verantwortlicher Herausgeber: Dr. Oskar Bulle in München.
liebten sich“ (Dresden und Leipzig, Pierson) aus: diese
Aebersicht.
ganz unklar und formlos erzählte Geschichte eines Frauen¬
Neue Erzählungen. Besprochen von Alexander v. Weilen. — Die
heiligen Stätten in Palästina. — Mittheilungen und Nachrichten. —
herzens, stofflich an Gabriele Reuter erinnernd, ist wohl
Inhaltsverzeichniß zum III. Quartal.
eines der unfehlbarsten Schlafmittel.
In diesen und vielen ähnlichen Werken lebt eine alte
Tradition weiter; die Erweiterung, von der oben ge¬
sprochen wurde, kann sich nur dadurch vollziehen, daß Ge¬
Neue Erzählungen.
danken unsrer Zeit in den Mittelpunkt der Dichtung treten
Besprochen von Alexander v. Weilen.
und sie erfüllen. Die beiden groß angelegten Romane,
die diesmal vorliegen, stehen unter dem Zeichen Friedrich
In der Literatur erheben sich heute dieselben Klagen wie
aber welch ver¬
Nietzsche's. Derselbe Ausgangspunkt —
in Kunstausstellungen: man vermißt die großen, heroischen
schiedene Resultate!
Gemälde und fühlt sich durch die Menge der Genrebilder
Nietzsche, der Dekadent, ist der geistige Vater von
leicht abgespannt und angeödet. Auch die Schriftsteller
Gabriele d'Annunzio's: „Lust“ (übersetzt von M.
geben am liebsten Skizzen, angedeutete Problemchen, der
Gagliardi, Berlin, Fischer). Mit diesem Buche ist dem
historische Roman liegt ganz brach, ja selbst eindringende
deutschen Leser sozusagen das „Werk“ des Italieners über¬
psychologische Analysen größeren Umfangs werden immer
liefert und sein innerstes Wesen in dieser dem Selbstportrait
seltener. Auf der einen Seite ist dies ja bedauerlich, zumal
angenäherten Studie erschlossen. Aber seine Bedeutung
da in diesen Kleinstücken der Erzählungskunst allzusehr der
geht weiter: es ist ein Denkmal einer ganzen Epoche und
stoffliche Reiz, die Anekdote an und für sich, den Ausschlag
eine Ars amandi“ des endenden Jahrhunderts und des
für die Beurtheilung der dichterischen Begabung geben muß,
raffinirten Ueberkulturmenschen. Der Inhalt ist in wenige
ein höchst zweifelhaftes Kriterium; auf der anderen Seite
Worte zu fassen: Andrea Sperelli's Verhältniß zum Weibe.
aber entsprechen diese kleinen Formen mit ihrem kleinen
Und dies erschöpst nicht etwa nur das Buch, nein, den
Inhalte auch der Zeit, in der sie geschaffen worden, und
Helden selbst, der nur in physischen und geistigen Sensationen,
die überlebensgroßen Gestalten unsrer Ahnen hätten in den
die alle wieder auf Liebe zurückgehen, dahintaumelt. Auch
niedlichen Hütten, in die wir Leben wie Literatur bergen,
an Charakteren im landläufigen Sinne fehlt es gänzlich:
keinen Raum. Der Ruf nach Göttern findet nur da Er¬
schattenhaft bleiben die Gestalten der beiden Frauen, und
hörung, wo man Götter glaubt. Wenn sich auch die Un¬
sowohl das liebedürstende, wie das in erzwungener Keusch¬
möglichkeit, große Gestalten im Sinne vergangener Zeiten
heit widerstrebende Weib werden in gleicher Weise Opfer
zu schaffen, am stärksten und sichtlichsten im Drama kund¬
ihrer Sinne. Das Vergeistigte der Leidenschaft, das der
gibt, auch die Prosaerzählung gibt ihr Bestes auf inhaltlich
Dichter in Maria zeichnen will, wird, obwohl er mit rhetori¬
wie räumlich eng begrenztem Gebiete.
schen Tagebuchblättern arbeitet, doch nur wieder rein
Umsomehr fallen Werke ins Auge, welche die engen
physisch, und die Frauen der Gesellschaft unterscheiden sich
Grenzen kühn erweitern. Dazu rechne ich nicht jene histori¬
nicht im mindesten von den Hetären, welche eine episodistische
schen Romane, welche einen Strumpf, den die Mühlbachs,
Scene vorführt. Denken und Wollen — das sind die zwei
Scheibes u. a. unvollendet gelassen haben, getrost weiter
Dinge, welche d'Annunzio's Gestalten abgehen, vor allem
stricken. Ein derartiger Leihbibliotheksroman liegt z. B. in
dem Helden, welcher das feinste, empfindlichste Barometer
Oskar Mysings „Beresina“ (Berlin, O. Janke, 3 Bde.)
für erotische Sensationen verkörpert. Andrea Sperelli ist
vor, eine Haupt= und Staatsaktion unter dem prunkenden
ein Künstler des „Genusses“ — vielleicht wäre so der Titel
Aushängeschild des Namens Napoleon, verquickt mit einer
„Piacere“ besser wiederzugeben gewesen — er schwelgt im
abenteuerlichen, effektgierigen Liebesgeschichte. Ebensowenig
höchsten Raffinement der Sinne durch die ihm eigenen
kann eine Marlitt=Geschichte, wie E. v. Wald=Zedwitz':
künstlerischen Gaben. Er ist Dichter, Kupferstecher, Kavalier
„Man sagt“ (Leipzig, List) Anspruch auf ernsthafte Be¬
ohne Tadel, ein Meister der Form, wie der Dichter selbst;
achtung machen, wenn auch das Publikum an dem jungen
ihm ist er ein Abkömmlung jener Renaissance, wie er die¬
Manne, der von einer theatralischen Sendung à la Wilhelm
selbe mit trunkenen Augen schaut, als eine Orgie aller
Meister phantasirt, um urplötzlich seine künstlerischen Ideen,
Künste, aller Schönheiten, gekrönt von dem Schönsten, dem
die allerdings niemals ernst waren, aufzugeben und in
Weibe. Selbst die Wollust wird ihm durch Erinnerung an
den friedlichsten Hafen der Ehe einzufahren, sowie an den
ein Bild, ein Gedicht, eine Statue erst vermittelt, die
vielen lustigen und traurigen Verliebten männlichen und
schöne Natur spricht zu ihm erst durch das Medium der
weiblichen Geschlechts, die sich nach schrecklichen Verwirrungen
schönen Kunst. „Man muß sich sein eigenes Leben schaffen,
doch zu den richtigen Pärleins zusammenfinden, und an
wie man ein Kunstwerk schafft“, lehrt ihm sein Vater; das
den kleinen Hofintriguen sein Gefallen finden kann. Immer¬
klingt wie ein Goethe'sches Wort, aber eigentlich ist in ihm
hin wird ihm das flott geschriebene Buch die Zeit ver¬
das Verhältniß umgekehrt: er schafft sich erst aus dem
treiben, und das ist's ja, was so viele Leser vom Romane
Kunstwerke das Leben. Und dies ist ein bedeutender Unter¬
verlangen. Eine andere Wirkung, die dickleibigen Büchern
schied. Sein ästhetischer Sinn ist sein einziger Führer,
öfter eigen zu sein scheint, geht von A. Hers: „Sie