V, Textsammlungen 1, Die Frau des Weisen. Novelletten, Seite 36


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We
des
sen
1. Die Fran
DEUTSCHE BUCHER.
nicht lehrhaft,
Er hätte sie nicht erkannt, wenn er nicht gewusst hätte, wer es war.
Erst allmählich ging ihm die Achnlichkeit auf — erst allmählich wurde es
schlich so über¬
Anna, seine Anna, die da lag, und das erste Mal seit dem Beginne dieser
wie weltalt
entsetzlichen Tage fühlte er Thränen in seine Augen kommen. Ein heisser,
r und all¬
brennender Schmerz lag ihm auf der Brust, er hätte aufschreien mögen,
vor sie hinsinken, ihre Hände küssen.,, jetzt erst merkte er, dass er nicht
tin maass¬
allein mit ihr war. Jemand kniete zu Füssen des Bettes und hielt die
lus solchen
eine Hand der Toten in seinen breiten Händen fest. In dem Momente,
istliches
da Albert eben einen Schritt näher zu treten versucht war, hob jener den
Kopf: was werde ich ihm denn sagen! — Aber schon fühlte er von dem
lebens-
Knicenden seine rechte Hand ergriffen und gedrückt, und hörte ihn mi
inmitten
thränenerstickter Stimme flüstern: Dank, dank. — Und dann wandte sich
iven
der Weinende wieder weg, liess den Kopf niedersinken, und schluchzte
leise in die Decke. Albert blicb auch eine Weile stehen und betrachtete
das Gesicht der Toten mit einer Art von kalter Aufmerksamkeit. Die
Thränen waren ihm ganz ausgeblieben. Sein Schmerz wurde plötzlich dürr
uon
und wesenlos. Er wusste, dass ihm diese Begegnung später einmal
uis
schauerlich und komisch zugleich vorkommen würde. Er wärc sich sehr
lächerlich erschienen, hätte er mit diesem da geschluchzt.
Und er wendet sich zum Gehen. Noch immer schaut er
zurück, und er glaubt auf Annas Lippen ein Lächeln zu sehen.
Ein Lächeln, das ihn höhnt und richtet. Tief beschämt eilt
er durch die Strassen: “denn ihm war, als dürfe er nicht
trauern, wie die Anderen, als hätte ihn seine tote Geliebte
davongejagt, weil er sie verleugnet.“
Schneidender noch ist das zuerst in Cosworozis (Oktober
1807) gedruckte Nachtstück Die Toten schweigen. Eine treu¬
lose Frau bestellt sich mit ihrem Geliebten zu einer Wagen¬
fahrt auf die Reichsstrasse. Der trunkene Kutscher wirft den
Fiaker um. Der Galan stürzt unglücklich und bleibt sofort
mausetot. Im ersten Schreck hält die Dame ratlos bei der
Leiche aus. Im nächsten Augenblick lässt sie den Toten im
Stich, eilt auf Umwegen heim, gelangt unbemerkt in die
Wohnung, und verwischt jede Spur des furchtbaren Aben¬
teuers. Arglos kommt nun auch der Gatte nach Hause. Sie
bewahrt eine Weile Fassung. Erst da sie einschlummmert,
eS
verlässt sie ihre Spannkraft. Im Traum stösst sie einen Schrei
ihm,
aus. Auf den Anruf des Gatten erwidert sie:
treibt ihn
Ich weiss nichts, Ich weiss gar nichts. Und sich selbst gegenüber im
ode nahe ist.
Wandspiegel sicht sic ein Gesicht, das lächelt, grausam und mit verzerrten
haus. In der
Zügen. Sie weiss, dass es ihr eigenes ist und doch schauert sie davor.
Und sic merkt, dass es starr wird. Und sie versucht zu schreien. Da
ndringling Nie¬
fühlt sie, wie sich zwei Hände auf ihre Schultern legen und sie sicht, wie
die Hand.
sich zwischen ihr eigenes Gesicht und das im Spiegel das Antlitz ihres
Gatten drängt; seine Augen, fragend und drohend, senken sich in die

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