1. Die Frau
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des Neisen
—
COSMOPOLIS.
Augenblick in die Tür tritt. Erst nach jahren — just, da es
an einem Haar hängt, dass die ehedem nur sanft gebogene Ehe
gründlich gebrochen wird — erfährt er, dass der Professor
hochherzig die ganze Zeit geschwiegen, stumm verziehen habe.
Solche Seelengrösse des“ Weisen“ vergilt der junge Thor mit
gleicher Weisheit. Schweigend verlässt er die ahnungslose
Frau Professorin und verzichtet auf jedes weitere, lockende
Wiedersehen. Ein Hauch von Unschuld verklärt die unschein¬
bare Begebenheit, die nicht in dürrer Nacherzählung, sondern
erst durch die Erzählerkunst Schnitzlers zu ihrem vollen Reiz
und Recht kommt. In ihrer sanften Schwermut sticht sie von
den anderen Novelletten der Sammlung ab. Alle miteinander
machen den Misswachs mancher lyrischen Erntejahre weit.
Denn so schlank das Bändchen Schnitzlers ist, dem Kenner
wiegt es schwerer, als ganze Ballen Moderomane der letzten
Ostermesse.
III.
Ihr Name ist Legion, ihr Erfolg — nach der Ansicht eines
alten Theoretikers und Praktikers der Erzählungskunst —
Sache des allgemeinen Stimmrechts.“ Wie Kirschen
schmecken, muss man Kinder und Sperlinge fragen; wie
Romane munden, die Zeitgenossen. So erklärt Spielhagen
in seinen“ Neuen Beiträgen zur Theorie und Technik der Epik
und Dramatik“ (Leipzig, Staackmann, 1808). Offenbar
scherzhaft. Wir kommen ihm deshalb gar nicht mit der
Gegenfrage, welche Zeitgenossen maassgebend sein sollen für
die Krönung des jeweiligen Moderomans? Wissen wir
doch, dass heutzutage das naivste Gemüt die Lobsprüche von
Diderot und Lessing auf Richardsons Romane nicht unbe¬
dingt wiederholen würde, und sehen wir doch, dass Engels'
Lorenz Stark und die Agnes von Lilien der Wolzogen den
Zeitgenossen Goethes besser zusagten, als sein“ Wilhelm
Meister. Und seien wir ehrlich: was den Zeitgenossen Goethes
recht war, ist der Mehrheit unserer Zeitgenossen billig. Als ich
vor einem jahrzehnt das Roman-Feuilleton einer grossen
deutschen Zeitung zu redigiren hatte, sagte ich, ein wenig
verdrossen durch den fragwürdigen Geschmack mancher
Leserinnen, scherzhaft zum Chefredakteur: “ ich möchte
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des Neisen
—
COSMOPOLIS.
Augenblick in die Tür tritt. Erst nach jahren — just, da es
an einem Haar hängt, dass die ehedem nur sanft gebogene Ehe
gründlich gebrochen wird — erfährt er, dass der Professor
hochherzig die ganze Zeit geschwiegen, stumm verziehen habe.
Solche Seelengrösse des“ Weisen“ vergilt der junge Thor mit
gleicher Weisheit. Schweigend verlässt er die ahnungslose
Frau Professorin und verzichtet auf jedes weitere, lockende
Wiedersehen. Ein Hauch von Unschuld verklärt die unschein¬
bare Begebenheit, die nicht in dürrer Nacherzählung, sondern
erst durch die Erzählerkunst Schnitzlers zu ihrem vollen Reiz
und Recht kommt. In ihrer sanften Schwermut sticht sie von
den anderen Novelletten der Sammlung ab. Alle miteinander
machen den Misswachs mancher lyrischen Erntejahre weit.
Denn so schlank das Bändchen Schnitzlers ist, dem Kenner
wiegt es schwerer, als ganze Ballen Moderomane der letzten
Ostermesse.
III.
Ihr Name ist Legion, ihr Erfolg — nach der Ansicht eines
alten Theoretikers und Praktikers der Erzählungskunst —
Sache des allgemeinen Stimmrechts.“ Wie Kirschen
schmecken, muss man Kinder und Sperlinge fragen; wie
Romane munden, die Zeitgenossen. So erklärt Spielhagen
in seinen“ Neuen Beiträgen zur Theorie und Technik der Epik
und Dramatik“ (Leipzig, Staackmann, 1808). Offenbar
scherzhaft. Wir kommen ihm deshalb gar nicht mit der
Gegenfrage, welche Zeitgenossen maassgebend sein sollen für
die Krönung des jeweiligen Moderomans? Wissen wir
doch, dass heutzutage das naivste Gemüt die Lobsprüche von
Diderot und Lessing auf Richardsons Romane nicht unbe¬
dingt wiederholen würde, und sehen wir doch, dass Engels'
Lorenz Stark und die Agnes von Lilien der Wolzogen den
Zeitgenossen Goethes besser zusagten, als sein“ Wilhelm
Meister. Und seien wir ehrlich: was den Zeitgenossen Goethes
recht war, ist der Mehrheit unserer Zeitgenossen billig. Als ich
vor einem jahrzehnt das Roman-Feuilleton einer grossen
deutschen Zeitung zu redigiren hatte, sagte ich, ein wenig
verdrossen durch den fragwürdigen Geschmack mancher
Leserinnen, scherzhaft zum Chefredakteur: “ ich möchte