V, Textsammlungen 5, Masken und Wunder. Novellen, Seite 56

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5. Masken und Nunder
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Neues vom Büchertisch. Von Carl Busse.
Arthur Schnitzler Masken und Wunder (Berlin, S. Fischer).
Hermann Hesse Umwege (Ebenda). — Juliane Karwath, Die drei
Thedenbrinks (Dresden, C. Reißner). — Marthe Renate Fischer, Aus
stillen Winkeln (Stuttgart, A. Bonz & Co.). — Sophus Bonde Schi¬
mannsgarn (Stuttgart, Deutsche Verlags=Anstalt). — Goethes Italie¬
nische Reise. Mit den Zeichnungen Goethes, seiner Freunde und Kunstgenossen.
Herausgegeben von George von Graevenitz (Leipzig, Insel=Verlag).
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helme: Raabe blieb nach wie vor in der
Qun sollen die „Jungen“ also wirk¬
Zeit des deutschen Bundes stecken; Keller
lich alt werden: 1912 feiern viele
schwieg. Und das waren die Besten! Das
von ihnen, die mit der Literatur¬
waren diejenigen, die von der stürmenden
revolution der achtziger Jahre
verbunden sind ihren 50. Ge¬
Jugend auch während des schlimmsten
burtstag! Die Bewegung, die sie hervorge¬
Kampfes immer respektiert wurden! Aber
bracht hat, wird heut nur wenig geschätzt.
was das Entscheidende war: es fehlte völlig
eine im Talent gleichwertige Mannesgene¬
In seinem sonst so hübschen Werkchen über
ration, es fehlten die Dreißiger und Vier¬
die deutsche Dichtung spricht Karl Heine¬
mann spöttisch von der „sogenannten“ lite¬
ziger, es fehlte jeder Nachwuchs. Wohin man
rarischen Revolution, die „viel Lärm um
blickte, formgewandtes Epigonentum! Die
Lyrik, unser Stolz, war so heruntergekommen,
Nichts“ gewesen sei, und er schüttelt den
daß ein Mann sich schämte, ein Versbuch in
Kopf über die jungen Leute, die damals die
die Hand zu nehmen. Die Nation, die Se¬
Minderwertigkeit der deutschen Dichtung
dan geschlagen hatte, sollte sich mit dem
und die Notwendigkeit ihrer Erneuerung zu
proklamieren wagten ...
ohnmächtigen Wortgestammel von „Hurra,
Germania“ und himmelblauer Backfischpoesie
Aber es hat auf der Welt noch niemals
begnügen. In der erzählenden Literatur
eine Revolution gegeben, über die man nicht
war Spielhagen der Matador, der an
25 Jahre später erbittert oder lächelnd ab¬
Erfolg noch von der Marlitt und Julius
geurteilt hätte. In der Restaurationszeit
Stinde geschlagen ward! Ein deutsches
verfluchte man die große französische, deren
Drama existierte, von Anzengruber abgesehen,
Segen doch alle späteren Geschlechter zu
überhaupt nicht. Zum Hohn des Auslands
spüren bekamen; nach 1870 71 wurden die
nährte sich die deutsche Bühne von französi¬
„Sturmgesellen“ von 1848 zu komischen
schen Absällen, und Offenbach und Sardon
Figuren, und heute, in der neuromantischen
hießen nach 1870 die deutschen Klassiker ...
Reaktion, zuckt man eben die Achseln über
Goll sei Dani, daß da der deutschen Ju¬
die Bewegung der achtziger Jahre. Nichts
gend die Schamröte ins Gesicht stieg! Gott
kann törichter sein! Und man muß gerade
sei Dank, daß sie sich des ungeheuerlichen
in diesem Jubiläumsjahr mit aller Schärfe
Mißverhältnisses zwischen der politischen
sagen, daß die Jugend von 1884 tausend¬
Macht und der literarischen Ohnmacht Deutsch¬
mal recht hatte, als sie zum Bildersturm
ansetzte.
lands bewußt ward! Rußland, Frankreich,
der Norden hatten schon eine neue, große
Man komme doch nicht mit den sünf oder
Dichtung entfaltet — nur wir, die das Größte
sechs Fettaugen, die auf der schalen und ab¬
erlebt und durchgemacht hatten, standen
gestandenen Brühe von Anno dazumal ein¬
jämmerlich zurück. Der Tag mußte kom¬
sam herumschwammen! Gewiß gab es ein
men, der den Ausgleich anbahnte. Und ich
paar Dichter von Bedeutung: Storm, Keller,
wies schon einmal daraufhin: dreizehn Jahre
Raabe, Heyse, Meyer, Anzengruber. Aber
nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges,
sie hielten fast alle schon an der Schwelle
durch den Friedrich der Große der ganzen
des Alters, hatten ihre besten Werke vor 20
Nation einen von Goethe bezeugten höhe¬
oder 30 Jahren geschaffen und standen
ren Lebensgehalt zugeführt hatte brauste
naturgemäß den gewaltigen Ereignissen und
die Sturm= und Drangjugend in die Arena;
Problemen der neuen, riesenhaft anwachsen¬
dreizehn Jahre nach Beendigung des deutsch¬
den Zeit fremd gegenüber. Das deutsche
französischen Krieges trat wieder eine von
Volk hatte in heroischer Leistung das Reich
neuen Säften durchdrungene Kampfjugend
geschaffen, ein Bismark war am Werke, die
auf den Plan. Das ist mehr als ein bloßer
Industrie nahm ihren mächtigen Aufschwung
Zufall, den man belächeln kann. Hier waltet
und veränderte den ganzen Charakter des
eine historische Notwendigkeit, die man be¬
Staates, das rapide Anwachsen der Sozial¬
greifen muß. Aber nun fragen die Neun¬
demokratie stellte die Regierenden vor ganz
malweisen spöttisch, was die „Jungen“ denn
neue Aufgaben. Und diese junge Zeit
schließlich zuwege gebracht haben, was sich
fand nur alte Dichter. Storm hatte
„kein Wörtchen“ für all das Neue und feilte aus dem wilden Brodeln des Herenkessels
an stimmungsvollen Kleinstadtnovellen; ergeben hat. Mit Verlaub ihr Herren:
Meyer schmiedete kunstvolle Renaissance= ich finde, außerordentlich viel! Auf allen