V, Textsammlungen 2, Die griechische Tänzerin. Novellen, Seite 9

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Taenz
2. Die griechische.

unterscheidet, oder besteht dieses Gemeinsame lediglich
darin, daß die meisten von ihnen in Wien spielen und
bei wiener Verlegern erschienen sind, und gibt es eine
„Wiener Novelle“ ebensowenig als es eine münchner
oder berliner Novelle gibt?
Diese Fragen werden sich wie von selbst beant¬
worten, wenn wir den Inhalt der zwölf kleinen Bücher
vor dem Leser ausschütten und dabei auf den rasch ver¬
wehenden feinen Duft acht haben, der das Eigengeartete
vor dem Charakterlosen hier wie sonst auszeichnet. Wer
weiß, vielleicht ergeben diese Buketts — oder wenigstens
einige von ihnen — eine zarte, aber spürbare Harmonie.
Unter den vier Geschichten seines neuen Novellen¬
bandes!) hat Arthur Schnitzler die „Griechische
Tänzerin“ dadurch vor den anderen erhöht, daß er sie
im Titel des Buches genannt hat. Sie gliedert sich
innerlich wie äußerlich den älteren Erzählungen des
Dichters zwanglos an. Es ist dieselbe vornehme Kunst
der wie mit dem Silberstift sparsam gezogenen Umrisse,
es ist dieselbe Art des halblauten, verschleierten, ge¬
dämpften Vortrags, nur ein einziges Mal durch einen
stärkeren Akzent unterbrochen (S. 130: „Daß sie litt
und ihr Leben lang gelitten hat wie ein Tier“), der
aber dann wie ein Schlag aufs Herz wirkt. Und es
Aa##sfeide verstebende Mitleiden mit der Frauenseele
in ihrem=anrsnmelosen KKampf gegen die natürliche
männliche Brutalität. Ganz neue Töne aber schlägt
der Dichter in der tiefen und ergreifenden italienischen
Bettlergeschichte vom „Blinden Geronimo und seinem
Bruder“ an. Geronimo ist in früher Jugend durch
das Verschulden seines älteren Bruders Carlo erblindet.
Um seine Schuld zu büßen, geleitet dieser den Blinden,
der sich durch Singen und Gitarre=Spielen einen spär¬
lichen Lebensunterhalt erbettelt, von einer Fremdenstation
zur andern, Sommer und Winter, jahrelang, und betreut
ihn, so gut er eben kann. Aber die ganze Zeit hindurch
schlummert in der Brust des Blinden ein tiefes Mi߬
trauen gegen den Bruder, der die Almosen einsammelt
und die Kasse führt; er glaubt sich von ihm betrogen,
läßt sich aber nichts merken, bis der unbedachte Scherz
eines Fremden, der ihm zuflüstert, er habe Carlo ein
Goldstück gegeben, den Funken ins Pulver fliegen läßt.
Carlo kann den ausbrechenden Haß des Unglucklichen,
dem er sein Leben opfert, nicht ertragen und wird zum
Dieb, um das Goldstück beizuschaffen. Er bringt es
ihm, Geronimo bleibt unversöhnt; erst als sein Bruder
verhaftet wird, beginne er zu verstehen — und ihn zu
lieben. „Und plötzlich blieb Geronimo stehen, so daß
auch Carlo innehalten mußte. Nun, was ist denn?“
sagte der Gendarm ärgerlich. Vorwartr, vorwartets
Aber da sah er mit Verwunderung, daß der Blinde die
Gitarre auf den Boden fallen ließ, seine Arme erhob
D0
und mit beiden Händen nach den Wangen des Bruders
tastete. Dann näherte er seine Lippen dem Munde
Carlos der zuerst nicht wußte, wie ihm geschah, und
Besprechungen
küßte ihn. Seid ihr verrückt?“ fragte der Gendarm.
Vorwärts, verwärts! Ich habe keine Lust zu braten.“
Geronimo hob die Gitarre vom Boden auf, ohne ein
a Wiener Novellen
Wort zu sprechen. Carlo atmete tief auf, und er legte
die Hand wieder auf den Arm des Blinden. Und er
4 Von Hermann Übell (Linz)
lächelte mit einem sonderbaren Ausdruck des Glückes
„Vorwärks!“ schrie der Gendarm. „Wollt
vor sich hin.
Wiener Novellen — ist das ein umschriebener
*!“ Und er gab Carlo eins zwischen die
ihr endlich
literarischer Begriff, und habe ich zur Charak¬
Rippen. Und Carlo, mit festem Druck den Arm des
teristik des Dutzends kleiner Bücher, die vor
Blinden leitend, ging wieder vorwärts. Er schlug einen
mir liegen, etwas ausgesagt, wenn ich sie so nenne?
viel rascheren Schritt ein als früher. Das Lächeln
Novellen von wiener Autoren, sind das auch „Wiener
wollte von seinem Antlitz nicht verschwinden. Ihm
Novellen“, das heißt: haben sie irgend etwas Gemein¬
war, als könnte ihm jetzt nichts Schlimmes mehr ge¬
sames in Ton und Haltung, das sie deutlich von anderen
.Die griechische Tänzerin.“ Von Arthur Schnitzler.
Seitdem uns dieser Aufsatz zuging, ist ein neuer Noman
Novellen. Umschlag von I. Engelbart. Wien und Leipzig 1905,
der Gräfin de Noailles erschienen: „La domination“ Paris,
Wiener Verlag. 131 S. M. 1.—.
Calmann=Lévy). Ueber ihn in einem der nächsten Hefte. D. Red.
ehen, — weder vor Gericht, noch sonst irgendwo auf
Er hatte seinen Bruder wieder ...
r Welt.
ein, er hatte ihn zum erstenmal.
Nie hat die aristokratische Kunst Schnitzlers so
imittelbar zum Herzen gesprochen, wie in dieser
lichten, aber mit reicher, epischer Füke vergetragenen
eschichte. Sie muß den Weg in die einfachsten Seelen
iden, denen die hohe Meisterschaft der Erzählungs¬
chnif nur in ihren Resultaten zum Bewußtsein kommt.
Die gleichmäßig ist jede Situation belebt (so daß man
ch verwundert fragt, woher dem Dichter die Empirie
ieser Lebenskreife zugekommen sei), mit wie wenigen
uvergeßlichen Strichen ist die schicksalvolle Figur des
fremden eingeführt.
Gleichfalls an Tiefstes und Letztes rührt Andreas
khameyers letzter Brief“ der uns (und den Schreiber
elbst?) überzeugen soll, daß die Frau dieses kleinen
viener Privarbeamten ihm nicht, wie die Leute meinen,
nit einem der überseeischen schwarzen Gäste im Prater
intreu gewesen ist, sondern daß sie nur deshalb ein
chwarzes Kind zur Welt gebracht hat, weil sie sich
Es ist sein letzter Brief, denn
„versehen“ hat ...
im den Lästermund der Menschen, die an die Unschuld
der geliebten Frau nicht glauben wollen, zum Schweigen
zu bringen, wird er hingehen und sich erschießen
Mit wie schonender und behutsamer Hand hat hier
Schnitzler aus dem tragikomischen Motiv den reinen¬
kragischen Kern ausgelöst und wirksam gemacht, wie
überzeugend schreibt er aus dem rührend engen und
bedrückten Wesen eines „unbedeutenden“ Menschen
heraus, der doch in der Größe seines Glaubens aus
Heldenhafte streift.
Während die beiden schnitzlerschen Novellen mit
dem wahrsten Herzensanteil geschrieben sind, geben die
Erfindungen Hugo von Hofmannsthals?) dem Herzen
wenig zu denken, und ihre Wirkungen schalten in einer
and een Region unseres Bewußtseins. „Stimmungs¬
künstler“ nennen ihn, mit einem leisen, verächtlichen
Beiton, die literarischen Gequer; als ob das etwas
Geringes wäre! Als ob es ein Kleines wäre, wenn
ein Dichter die Kraft hat, die Lebensstimmung der
jungen Menschen unserer Zeit — ihre traumhafte Ver¬
sunkenheit in die Schätze alter Kulturen, ihren narzi߬
haften „Kult des Ichs“ und ihre Lebensfurcht — in
Symbolen von so fabelhafter Schönheit und Eindring¬
lichkeit auszuprägen wie Hugo von Hofmannsthal in
seinem farbenleuchtenden orientalischen Märchen, das
in unsere aufhorchende Jugend hineinfiel wie ein fremdes
buntes Wunder! (1894.) Dessen Tiefsinn wir ahnten,
aber nicht aussagen konnten, weil wir mit dem jungen
Kaufmannssohn zu sehr im gleichen Falle waren! Lange
Jahre war die jugendstrahlende Dichtung in jenen
glänzenden ersten Jahrgängen der bahrschen „Zeit“ ver¬
graben, von wenigen gekannt und geliebt; nun sie
wieder zum Vorschein gekommen; ist, wird man bald
erkennen, daß man es hier mit einem programmatischen
Werke zu tun hat, das für jenes Quinquennium genau
so aufschlußreich ist wie etwa Wackenroders „Herzens¬
ergießungen" und Schlegels „Lucinde“ für die ältere
deutsche Romantik.
In der „Reitergeschichte“ (aus den Kriegen der
Oesterreicher mit Italien) bemerke ich einen deutlichen
Ehrgeiz mit der novellistischen Technik Kleists, der wir
die besten deutschen Erzählungen verdanken, um die
Wette zu kämpfen. Hier wie dort eine Rapidität der
Erzählung, die dem Leser den Atem raubt; hier wie
dort auf dem allerengsten Raum eine traumhafte Fülle
ist ein Gedicht, das
des Lebens. Jenes „Märchen“
nur zufällig des Versgewandes entbehrt, die „Reiter¬
geschichte“ und das „Erlebnis des Marschalls von
Bassonpierre“ sind zuckende Stücke Lebens und daneben
„Das Märchen der 672. Nacht und andere Er¬
zählungen." Von Hugo von Hofmannsthal. Umschlag
von Walter Hampel. Wiener Verlag 1905. 123 S. M. 1.—.