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2. Die griechische Taunzerin
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hat uns einen recht unangenehmen Eindruck hinterlassen, ganz so, wie wenn Leute von
Witz und Geschmack sich am Wirtshaustisch keinen besseren Spaß wissen, als mit einem
armen Simpel ihren Spott zu treiben. Dafür ist „Der blinde Geronimo und sein Bruder“
eine direkte Überraschung. Strenge Geschlossenheit; im Vortrag Ruhe und jene pragmatische
Kunst, die kein überflüssiges Wort leidet; eine klare Tiefe. Ein Blinder, der mit dem
Bruder bettelnd umzieht, durch dessen Kinder=Schuld er das Augenlicht verloren; und nun macht
sich ein Fremder den frevelhaften Spaß, den ohnedies nur schlummernden Argwohn des
Blinden gegen den Führer aufzuwecken. Wie das wirkt: wie er den Sehenden — zum
Diebstahl treibt, damit er den Bruder nicht verliere, nicht den hilflosen fremden händen
überlassen müsse, wie alsdann im Blinden die Erkenntnis des ungeheueren Opfers er¬
wacht, das ihm gebracht wurde, wie die vergeltende Liebe in sein herz einzieht, das ist
in seiner Wortkargheit von einer seltsamen Schönheit. Rechter Gegensatz dazu, höchst
übermütig und von einer frechen Anmut ist „Exzentrik". Beste französische Marke; eine
höchst drollige Pointe nach einem Dialog, dessen Komik sich niemand entziehen kann.
Vielleicht fehlt es daran, wenn Felix Saltens „Der Schrei der Liebe“ (ebenda)
nicht ganz den rechten Eindruck macht. Ein physiologischer Scherz — in einem Land leben
Frauen, denen im Rugenblick der höchsten Ekstase sich ein Schrei entringt, der alles in
sich faßt und ihr ganzes Wesen ausdrückt. Der König freit nun eine Fremde, der diese
niemals und so bleibt sie ihm immer fremd und reizvoll. Das ist gar zu feierlich vor¬
getragen: in einer geschmückten und schwerfallenden Art, wenn die Manier von Saltens
„Gedenktafel der Prinzessin Anna“ besser angebracht wäre: heiteres Lachen für ver¬
hohlenes Schmunzeln. Wie aber Siegfried Trebitsch mit seinem „Verkauften Lächeln“
in diese Gesellschaft kam, versteht man gar nicht. Um Bernard Shaw mag er seine Ver¬
dienste haben; seine früheren Erzählungen kenne ich nicht. Diese sind in jedem Sinn mäßig
und hinken sprachlich bedenklich, desto auffallender, nachdem jetzt bei uns allgemein ein
wirklich vortreffliches Deutsch geschrieben wird. Da ist nichts und bei niemandem mehr zu
bemängeln.
Sehr übermütig ist Rudolf Greinz' „Das goldene Kegelspiel“. (Leipzig, Staack¬
mann.) Er ist ein Tiroler wie Karl Schönherr und hat sich in ungewöhnlichem Maße
den Sinn für volksmäßig derben Schwank bewahrt. Schwärzer nehmen ihre Rache an
dem, der sie in die Hände der Finanzer geliefert. Sie nützen zu diesem Ende seine hab¬
gier und seinen Aberglauben und wissen ihn zum Schluß gar noch dahin zu bringen,
daß er selber die geschmuggelte Ware an ihren Bestimmungsort trägt. Das geschieht mit
viel List und mit sinnreicher Grausamkeit, an der sich das Volk gegenüber den Opfern
seines Humors nicht leicht genug tun kann. Es ist echte, ungebärdige Lustigkeit in der
Sache; an den Dreikönigsaberglauben knüpft die andere Geschichte an, in der die Schnurre
plötzlich in Tragik umschnappt, während der „Stiegl=Bader“ eine flott erzählte und ganz
niedliche harmlosigkeit ist.
Es gibt kaum einen Menschen, der hellere Augen im Kopfe trägt, besser sieht, als
Max Burckhardt. („Wahre Geschichten.“ Wiener Verlag.) Man kann schwer richtiger,
ja geistreicher beobachten. Das ist alles ganz unanfechtbar wahr und oftmals verblüffend
neu. Nur — an der Ausführung fehltes gern, so daß selbst unwahrscheinlich erscheint,
was gewiß richtig ist. Er ist zu viel Tatsachenmensch, der sich's an seinen Funden ge¬
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2. Die griechische Taunzerin
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hat uns einen recht unangenehmen Eindruck hinterlassen, ganz so, wie wenn Leute von
Witz und Geschmack sich am Wirtshaustisch keinen besseren Spaß wissen, als mit einem
armen Simpel ihren Spott zu treiben. Dafür ist „Der blinde Geronimo und sein Bruder“
eine direkte Überraschung. Strenge Geschlossenheit; im Vortrag Ruhe und jene pragmatische
Kunst, die kein überflüssiges Wort leidet; eine klare Tiefe. Ein Blinder, der mit dem
Bruder bettelnd umzieht, durch dessen Kinder=Schuld er das Augenlicht verloren; und nun macht
sich ein Fremder den frevelhaften Spaß, den ohnedies nur schlummernden Argwohn des
Blinden gegen den Führer aufzuwecken. Wie das wirkt: wie er den Sehenden — zum
Diebstahl treibt, damit er den Bruder nicht verliere, nicht den hilflosen fremden händen
überlassen müsse, wie alsdann im Blinden die Erkenntnis des ungeheueren Opfers er¬
wacht, das ihm gebracht wurde, wie die vergeltende Liebe in sein herz einzieht, das ist
in seiner Wortkargheit von einer seltsamen Schönheit. Rechter Gegensatz dazu, höchst
übermütig und von einer frechen Anmut ist „Exzentrik". Beste französische Marke; eine
höchst drollige Pointe nach einem Dialog, dessen Komik sich niemand entziehen kann.
Vielleicht fehlt es daran, wenn Felix Saltens „Der Schrei der Liebe“ (ebenda)
nicht ganz den rechten Eindruck macht. Ein physiologischer Scherz — in einem Land leben
Frauen, denen im Rugenblick der höchsten Ekstase sich ein Schrei entringt, der alles in
sich faßt und ihr ganzes Wesen ausdrückt. Der König freit nun eine Fremde, der diese
niemals und so bleibt sie ihm immer fremd und reizvoll. Das ist gar zu feierlich vor¬
getragen: in einer geschmückten und schwerfallenden Art, wenn die Manier von Saltens
„Gedenktafel der Prinzessin Anna“ besser angebracht wäre: heiteres Lachen für ver¬
hohlenes Schmunzeln. Wie aber Siegfried Trebitsch mit seinem „Verkauften Lächeln“
in diese Gesellschaft kam, versteht man gar nicht. Um Bernard Shaw mag er seine Ver¬
dienste haben; seine früheren Erzählungen kenne ich nicht. Diese sind in jedem Sinn mäßig
und hinken sprachlich bedenklich, desto auffallender, nachdem jetzt bei uns allgemein ein
wirklich vortreffliches Deutsch geschrieben wird. Da ist nichts und bei niemandem mehr zu
bemängeln.
Sehr übermütig ist Rudolf Greinz' „Das goldene Kegelspiel“. (Leipzig, Staack¬
mann.) Er ist ein Tiroler wie Karl Schönherr und hat sich in ungewöhnlichem Maße
den Sinn für volksmäßig derben Schwank bewahrt. Schwärzer nehmen ihre Rache an
dem, der sie in die Hände der Finanzer geliefert. Sie nützen zu diesem Ende seine hab¬
gier und seinen Aberglauben und wissen ihn zum Schluß gar noch dahin zu bringen,
daß er selber die geschmuggelte Ware an ihren Bestimmungsort trägt. Das geschieht mit
viel List und mit sinnreicher Grausamkeit, an der sich das Volk gegenüber den Opfern
seines Humors nicht leicht genug tun kann. Es ist echte, ungebärdige Lustigkeit in der
Sache; an den Dreikönigsaberglauben knüpft die andere Geschichte an, in der die Schnurre
plötzlich in Tragik umschnappt, während der „Stiegl=Bader“ eine flott erzählte und ganz
niedliche harmlosigkeit ist.
Es gibt kaum einen Menschen, der hellere Augen im Kopfe trägt, besser sieht, als
Max Burckhardt. („Wahre Geschichten.“ Wiener Verlag.) Man kann schwer richtiger,
ja geistreicher beobachten. Das ist alles ganz unanfechtbar wahr und oftmals verblüffend
neu. Nur — an der Ausführung fehltes gern, so daß selbst unwahrscheinlich erscheint,
was gewiß richtig ist. Er ist zu viel Tatsachenmensch, der sich's an seinen Funden ge¬