V, Textsammlungen 3, Dämmerseelen. Novellen, Seite 15


3. Daennerseelen box 35,
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(Quellenangabe ohne Gewähr.
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6 Ausschnitt aus:
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vom:
Literarische Notizen.
(„Dämmerseelen“. Novellen von Artur Sc
Berlin, S. Fischer.) Das neue Buch Schnipzters wnrdnich
mancher Richtung hin überraschen. Vor allem jene, die
Ljedem modernen Literaten seine unveränderliche Note gnädig
oder gebieterisch zubilligen. Sie werden vielleicht finden,
Schnitzler wandle in neuen Bahnen — sie werden damit
ältere meinen — und werden irritiert die Köpfe schütteln.
Uns aber will es scheinen, als wüchse alles, was Schnitzler
in den letzten Jahren geschrieben, aus einem unausgesetzten
Klärungs= und Reifensprozesse hervor, der den Dichter
immer breiteren Boden gewinnen, die enge persönliche Noie
immer mehr künstlerisch objektivieren, die feine Beobachtung
des Tatsächlichen mit der Freude tiefen Gestaltens immer
mehr der Phantasie unterordnen läßt. So hat Schnitzler
diesmal in den beiden ersten Novellen, Das Schicksal
des Freiherrn von Leisenbohg“ und „Die Weissagung“ mit
der Macht naiver Erzählerkunst ins Gebiet des Mystischen
gegriffen und den Boden der realistischen Lebensbeobachtung
verlassen. Mit einer seinen Kunst, die sich ihres Gestaltens
freut, die in die Konturen wahren Lebens das Grauen
mischt, die festen Linien in feine Verschwommenheit taucht
und die Hintergründe der Vorgänge des Alltags gespenstisch
ins Dunkle, Unendliche rückt, hat Schnitzler hier zwei Bilder
entworfen, die an E. T. A. Hofmann und Pos gemahnen,
die man in ihrer Wirkung in sich aufnehmen muß als das,
was sie sind, Meisterwerke der Erzählerkunst, ohne sie aus#
dem Dämmer ihrer feinen Empfindung ins klare, harte
Tageslicht nackter Lebenswahrheit rücken zu bürfen. Wie ge¬
wisse Gemälde ihre Beleuchtung, ihr Halbdunkel brauchen, so
bedürfen diese Novellen die gedämpfte, ihrem fremdartigen,
fast gespenstischen Wesen nachfühlende Stimmung. Dann
wird man sie als feine Kunstwerke, als wundersame Gebilde
eines echten Dichters auf sich wirken lassen. Während die
dritte der Erzählungen, „Das neue Lied“, wieder völlig mit
Schnitzlers Kunst echter Lebensbeobachtung aus dem Wieneri¬
schen Vorstadtmilieu geschöpft ist, das Schnitzler mit dem so
tief ins Tragische eindringenden Blick zu gestalten weiß,
liegen auch über der vierten Erzählung, „Die Fremde“, die
blassen Schleier einer dem Alltag entrückten Psychologie. Eine
Frauengestalt von süßer Rätselhaftigkeit, fast wie ein Schemen
gestaltet, zieht vorüber, deren Wesen im Grunde nur das Ge¬
heimnis des tief Weiblichen, im Unbegreiflichen fast Ahnungs¬
los=Selbstverständlichen ist. Die Weibnatur, die dem uner¬
gründlich und rätselhaft erscheint, der sie in ihrer primitiven
naiven Sexualität nicht begreift und hinter den Außerungen
ihrer fast kindlichen Natur, die rätselhaften Vorgänge eines
Seelenlebens zu deuten sucht. Die letzte der Novellen, „Herrn
Andreas Thameysis letzter Brief“, ist ein Stückchen Tragik,
scheinbar gleichgültig erzählt, mit der feinen Ironie durchsetzt,
mit der das Leben über die Einfältigen, Gutmütigen und
Leichtgläubigen triumphiert, mit der es den Spott und das
Lächeln hart neben die Träne des Mitleids rückt. Dieses
Spiel mit Humor und Tragik, Spott und Mitleid ist eine
Lieblingsnote Schnitzlers. Er hat sie auch im dramatischen
wiederholt angeschlagen. Sein feiner, spöttischer Geist gibt hier
dem tragischen Grundton tiefer Empfindung immer wieder
den kühnen, befreienden Zug. Nach der müden, schweren
dunklen Stimmung aller dieser Erzählungen im letzten
Momente ein ironisches Lächeln, gleichsam ein Lichtstrahl,
der den Besucher wieder aufatmend ins Freie geleitet, aus
dem Bann dunkler Versonnenheiten ins kalte, klare, nüchterne
p. W.1.
Licht des Alltags!

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