V, Textsammlungen 3, Dämmerseelen. Novellen, Seite 33

3. Daemnerseelen box 35/7
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Lissauer: Schnitzlers Dämmerseelen.
wahr zu stilisieren? Aber Dehmel besitzt so wenig wie etwa Platen
die größte Gabe des Lyrikers: das Talent zu erleben. Ein paar,
immer wieder ausgebeutete chaotische Stimmungen müssen ihm allen
Stoff liefern; er muß sie systematisch, mechanisch, vollständig kombinieren
und erschöpfen und glaubt dann, eine Evangelienharmonie der mo¬
dernen Seele geschaffen zu haben. Zwischen Autobiographie und
Mythologie schwankt er her, ohne sie mit Spittelers Größe verbinden
zu können; und gerade die unschöne Deutlichkeit der Bestandteile in
seiner Dichtung macht ihn zum Abgott verwandter Mosaikseelen.
Aber wir ehren in ihm den Mann, der nie an der unmöglichen
Aufgabe ermattet, sich zu dichterischer Einheit und Größe zu er¬
ziehen und den das stetige Feuer idealistischer Arbeit weit über all
die kleinen Gleichfertigen erhebt, denen kein innerer Konflikt und
kein großes Streben die bequeme Harmonie geschmackvoller Nichtig¬
keiten stört.
Richard M. Meyer.
Berlin.
Dämmerseelen.
Novellen von Arthur Schnitzler.

S. Fischer, Verlag, Ber
Die Menschen sind ohne Willen in die
Die romantische Kunst liebt nicht
Hand von Göttern gegeben, die nur von
jdas pralle, klare Licht des Mittags,
außen stoßen, von „Puppenspielern“
micht das harte, strenge Dunkel der
die irgendwo im Raume hausen und
Nacht. Sie liebt die Stunden der
aus dem Unsichtbaren an unsichtbaren
Auflösung. des Ueberganges, der Gren¬
Fäden ihre Wege und Bewegungen len¬
ze; die Dinge streben ihre Konturen
ken. Die Menschen dieses Buches spü¬
zu verlassen, alles fließt, alles zittert
ren die Drähte, an denen sie wandeln;
in unsicherem, verdämmertem Schein.
die bohren sich in ihre Seele ein, wie
Die romantische Kunst sucht wie die
die Kandare in das Maul des Pfer¬
Zwischen= und Zwielichtzeiten in der
des. „Die Fremde“ heißt eine Erzäh¬
Natur. die Zwischen= und Zwielicht¬
lung: sie sind Fremde, nicht beimisch
reiche der Seele. Sie sucht nicht das
im Irdischen, nicht heimisch im Außer¬
ewige Gesetz, sondern die ewige Vari¬
irdischen, Wesen aus einem Grenzland,
ante. „La nuance, c’est tont.“ Sie
wohin vom Tag des Diesseits und von
sucht die Stufungen, die Sonderungen,
der Nacht des Jenseits Licht und Dun¬
das Seltsame; nicht das Uebergewöhn¬
kel geworfen wird und zu Dämmer¬
liche, sondern das Außergewöhnliche.
schein verfließt. Katharina wandelt da¬
Die gesamte deutsche und österrei¬
hin. ganz Traum, ganz Trieb. fernes
chische Literatur der letzten Jahrzehnte
Geschehen im Traume schauend, ent¬
ist mit solcher romantischen Kunst an¬
fremdet, befremdend. Eine „Weissa¬
gefüllt gewesen, und während bereits

gung“ aeht in Erfüllung. Grausiges
das Kommen einer anderen Kunst zu
geschieht. Unwirkliches. Unwahrschein¬
heobachten ist — einer Kunst der Bild¬
liches. Aber der Erzähler sieht scharf
hauer und Baumeister nach dieser Kunst
und bildet in Ruhe, und so vermag
der impressionistischen Maler und Skiz¬
er uns, für's erste wenigstens, zu über¬
zierer und der Photographen — ge¬
reden durch die Bestimmtheit seiner
langt jene moderne Romantik jetzt zu
Aussage. Doch, andrerseits, diese Ruhe
ihren prägnantesten und, innerhalb ih¬
und Klarheit war von vornherein da;
rer Grenzen, vollkommensten Aeuße¬
sie beruht nicht auf Selbstzucht des
rungen.
Künstlers, sondern auf Teilnahmslo¬
Das Grundmotiv der Schnitzler'schen
sigkeit des Menschen. Diese Gescheh¬
Dichtung klingt auch in diesen Novellen.