V, Textsammlungen 3, Dämmerseelen. Novellen, Seite 43

3. Daemnerseelen
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490 Carl Busse: Neues vom Büchertisch. 84
Das neue Novellenbuch von Arthur Da sperrt Leisenbohg den Mund auf,
Schnitzler erinnert ein wenig an Jakob starrt den Mann vor sich an, begreift, daß
Wassermanns jüngstes Opus „Die Schwe= Kläre ihn dies eine Mal nur erhört hat, um
stern“ das ja schließlich mit demselben Recht
den Fluch des Toten auf ihn abzulenken, und
auch „Dämmerseelen“ heißen könnte. Nach stürzt lautlos wie eine Gliederpuppe zusam¬
all dem peinlichen Realismus scheint es
men. Der Schluß, wo der nun beruhigte
Mode zu werden, geheimnisvolle Mächte
Sänger seine Stimme probt, ist fast ver¬
und romantische Begebenheiten zu beschwö¬
letzend, das Ganze ein kaltes Spiel — aber
ren. Aber man muß selbst etwas von einer
das Spiel eines glänzenden Virtnosen.
Dämmerseele in sich haben, um Dämmer¬
seelen ausschöpfen zu können. Das hat
Wassermann, aber das hat nicht Schnitzler.
Bei jenem ahnt man und schauert, bei diesem
lächelt man oder schüttelt den Kopf. Er ist
zu kalt, klar, klug, als daß jemals das My¬
steriöse bei ihm aufkommen und uns ergreifen
könnte. Den besten Beweis dafür liefert die
zweite Novelle „Die Weissagung". Es wird
darin eine unerklärliche und rätselhafte Be¬
gebenheit erzählt, die natürlich eine starke
Spannung auslöst. Die in Amerika äußerst
beliebten spiritistischen Geschichten schlagen
in eine ähnliche Kerbe. Aber da wir eine
natürliche Erklärung für die vorgetragenen
Seltsamkeiten nicht finden, und Schnitzler
auch selber nicht gläubig und Poct genug
ist, um geheime Schauer und Ahnungen aus
dem Unerklärlichen emporsteigen zu lassen,
so bleibt uns am Ende nur das ärgerliche
Gefühl einer aufgestachelten und nicht be¬
friedigten Neugier. Die amüsante Schlu߬
novelle „Andreas Thameyers letzter Brief“
kennen wir schon aus einem früheren Buche,
aber der gute Andreas ist doch mehr ein
rührender Dummkopf, über den sich sein
Schöpfer im stillen selber lustig macht, als
etwas anderes. Und in der eigentlichen Ge¬
schichte einer „Dämmerseele“, in „Die Fremde“.
versagt Schnitzler ganz; gerade hier jedoch
hätte Wassermann triumphiert.
So bleiben zwei Stücke übrig, über die
man sich unterhalten kann: „Das neue Lied“
und vor allem „Das Schicksal des Freiherrn
von Leisenbohg“ Diese letztgenannte No¬
velle ist nicht nur stofflich interessant, sondern
auch glänzend gemacht. Seit zehn Jahren
bewirbt sich der Freiherr um eine Sängerin,
die ihm jedoch nacheinander ein Dutzend an¬
dere Männer vorzieht. Ihr letzter Geliebter
stürzt mit dem Pferd und stirbt in ihren
Armen. Wieder schöpft der beharrliche Frei¬
herr Hoffnung, obwohl bedrohlich als neues
Gestirn ein nordischer Opernsänger auftaucht.
Und das kaum mehr Gehoffte geschieht:
Kläre erhört ihren getreusten Anbeter. Am
nächsten Tage jedoch ist sie mit dem Opern¬
sänger verschwunden. Fassungslos und wie
K1.
in einem Dämmerzustand reist der Freiherr
durch die Welt, bis ihn jener Sänger durch
ein dringendes Telegramm zu sich ruft. Er
sei ein verlorener Mensch, sagt er ihm, denn
der verstorbene letzte Liebhaber Kläres hätte
sterbend über den ersten, der nach ihm
komme, einen grauenhaften Fluch getan:
Wahnsinn, Elend und Tod sollten sein Schick¬
sal sein. Und da nun er, der Sänger, dieser
erste gewesen sei ...