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3. Da seelen
0.— Dämmerseelen. Novellen von Arthur Schnitzler.
S. Fischer's Verlag, Berlin. Ein Buch voll räthselhäfter, buntler,
unergründlicher Lebensschicksale, voll von stiller Melancholie und
Skepsis, nachdenklich, ironisch, dabei lächelnd — ein Buch, wie es
nur Schnitzler schreiben konnte. Derselbe Schnitzler, der schon im
„Paracelsus“, im „Grünen Kakadu“ — weniger deutlich auch in
anderen Stücken und Büchern — die Unerforschbarkeit der tiefsten
und letzten Seelenschichten berührt, das ewige Ineinanderfließen von
Traum und Wachen, Leben und Tod, Spiel und Ernst, all die un¬
faßbaren heimlichen Gewalten, die uns umlauern und die das Dasein
so seltsam, bunt und verwirrend gestalten. „Wir spielen immer, wer
es weiß, ist klug, sagt Paracelsus. Und immer wieder wird
gezeigt, wie wir zwischen Menschen dahinleben, die wir lieben
oder hassen, oder die uns auch gleichgiltig sind und die
wir Alle zu kennen vermeinen, weil wir von ihrem
äußeren Thun wissen und Einiges von ihrem Fühlen und Denken
errathen, bis dann plötzlich ein Tag kommt, an dem eine Mauer
zwischen ihnen und uns emporsteigt — nein, an dem wir sehen, daß
eine solche Mauer immer da war, ohne daß wir es wußten. Und wir
erkennen erschauernd, wie Jeder von uns im Grunde allein hilflos,
ungekannt und verlassen dasteht, daß wir nichts vom Nächsten wissen,
vielleicht auch von uns selbst nichts, daß das Leben ein traumverlorenes
Wandeln auf unbekannter Straße und nach unbekannten Zielen ist und
daß des Wunderbaren, Unbegreiflichen und Schreckhaften ringsum
kein Ende. Von solch wunderbaren, unbegreiflichen oder schreckhaften
Geschehnissen erzählen die neuen Novellen Schnitzler's, die jetzt unter
dem Titel „Dämmerseelen“ erschienen sind. Sie sind sehr verschieden¬
artig und holen sich ihre Menschen aus den verschiedensten Lebens¬
kreisen. Aber überall ist Einer da, der an einem inneren Erlebniß
zugrunde geht, das für Alle unerfindlich und unerklärlich bleibt und
das doch mit der Unerbittlichkeit eines Fatums herannaht. Ein großes
„Warum?“ steht überall am Ende, trotzdem man das gesetzmäßige
Walten irgendwelch dunkler Mächte fühlt, die von dieser Seele Besitz
nehmen. Aber alle Vernunft und alle Psychologie reicht nicht aus, sie
zu erkennen oder bis zu ihrem Ursprung zu verfolgen. Das gibt dann
für all diese Geschichten jene erwähnte skeptische, melancholische,
mystische Grundstimmung und schließt sie zu einheitlicher Harmonie.
Höchstens die erste, überaus amüsante Novelle vom „Schicksal des
Freiherrn von Leisenbogh“ fällt ein wenig aus dieser Grundstimmung.
Es ist eine heitere und spaßige Geschichte, aber es liegt die tiefste
Tragik eines Menschenlebens darin. Für unser Fühlen ist es nämlich
immer noch Konvention, belustigt zu sein, sobald Einer — wie hier der
Freiherr — bei einem Weibe, das er liebt, immer und immer wieder
zu spät kommt. Nach zehn Jahren dann, da er fast aufgehört hat, zu
hoffen, fällt ihm eines Abends die Geliebte zu, wie eine reife Frucht.
Er träumt am Morgen von neuem Leben, einem herrlichen zweiten
Frühling — während sie mit einem Tenoristen bereits im Expreßzug
sitzt. Die eine Nacht hatte sie ihm geschenkt, weil ihr früherer Geliebter
am Sterbebette seinem Nachfolger den Tod gewünscht hatte. Das
durfte der Ritter vom hohen C also nicht sein. Es mußte ein Zwischen¬
mann gefunden werden. Der Freiherr. Und wie dieser all das erfährt,
fällt er todt vom Sessel. Der Fluch hat sich erfüllt. Wie gesagt, diese
Geschichte harmonirt nicht ganz mit den anderen; sie ist nur die wirk¬
samste. Die feinste und tiefste ist die von jener Volkssängerin, die
erblindet ist und die eines Abends, da sie irgend ein neues sentimen¬
tales Lied singt, hört, daß ihr früherer Geliebter auch unten vor dem
Podium beim Bier sitzt. Als sie geendet, steigt sie unbemerkt die Hof¬
treppe hinauf und stürzt sich auf die Straße. Es ist nicht zu sagen,
warum sie das thut. Und doch versteht es jeder der sehr primitiven
Vorstadtmenschen, die nun rathlos um sie herumstehen: sie konnte
nicht anders. Worte reichen nicht bis in jene Dämmertiefen. Hier
zeigt sich wieder jene wunderbare Fähigkeit Schnitzler's, mit
ein paar Andeutungen Seelenstimmungen, Gefühlszustände von
erschütternder Kraft aufleben zu lassen. Ueberhaupt welche
Kunst der Darstellung liegt in dieser kleinen Geschichte! Er verzichtet
so sehr auf jede brutale Schilderung der „packenden“, „unmittelbaren“.
Realität, daß er das Ganze ins Vergangene transponirt. Es ist
gestern geschehen. Man erfährt Alles auf einem Spaziergange aus
der verworrenen Rede eines kleinen Bänkelkomponisten, der immer
nur betheuert, daß wirklich nicht sein „neues Lied“ die Schuld trug.
Dann sind zwei andere Geschichten da, die noch tiefer in seelische
Abgründe hinabreichen, bis ganz an die Grenze des Okkulten und
Visionären: die „Weissagung“ und die „Fremde“. Wo immer man
das Buch aufschlägt, ist es voll solch nachdenklicher Lebensräthsel,
allerlei leiser Tragik, lächelnden Verstehens, müder Grazie und melan¬
cholischer Ironie — kurz es ist ein neues Buch Arthur Schnitzler's. G.
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3. Da seelen
0.— Dämmerseelen. Novellen von Arthur Schnitzler.
S. Fischer's Verlag, Berlin. Ein Buch voll räthselhäfter, buntler,
unergründlicher Lebensschicksale, voll von stiller Melancholie und
Skepsis, nachdenklich, ironisch, dabei lächelnd — ein Buch, wie es
nur Schnitzler schreiben konnte. Derselbe Schnitzler, der schon im
„Paracelsus“, im „Grünen Kakadu“ — weniger deutlich auch in
anderen Stücken und Büchern — die Unerforschbarkeit der tiefsten
und letzten Seelenschichten berührt, das ewige Ineinanderfließen von
Traum und Wachen, Leben und Tod, Spiel und Ernst, all die un¬
faßbaren heimlichen Gewalten, die uns umlauern und die das Dasein
so seltsam, bunt und verwirrend gestalten. „Wir spielen immer, wer
es weiß, ist klug, sagt Paracelsus. Und immer wieder wird
gezeigt, wie wir zwischen Menschen dahinleben, die wir lieben
oder hassen, oder die uns auch gleichgiltig sind und die
wir Alle zu kennen vermeinen, weil wir von ihrem
äußeren Thun wissen und Einiges von ihrem Fühlen und Denken
errathen, bis dann plötzlich ein Tag kommt, an dem eine Mauer
zwischen ihnen und uns emporsteigt — nein, an dem wir sehen, daß
eine solche Mauer immer da war, ohne daß wir es wußten. Und wir
erkennen erschauernd, wie Jeder von uns im Grunde allein hilflos,
ungekannt und verlassen dasteht, daß wir nichts vom Nächsten wissen,
vielleicht auch von uns selbst nichts, daß das Leben ein traumverlorenes
Wandeln auf unbekannter Straße und nach unbekannten Zielen ist und
daß des Wunderbaren, Unbegreiflichen und Schreckhaften ringsum
kein Ende. Von solch wunderbaren, unbegreiflichen oder schreckhaften
Geschehnissen erzählen die neuen Novellen Schnitzler's, die jetzt unter
dem Titel „Dämmerseelen“ erschienen sind. Sie sind sehr verschieden¬
artig und holen sich ihre Menschen aus den verschiedensten Lebens¬
kreisen. Aber überall ist Einer da, der an einem inneren Erlebniß
zugrunde geht, das für Alle unerfindlich und unerklärlich bleibt und
das doch mit der Unerbittlichkeit eines Fatums herannaht. Ein großes
„Warum?“ steht überall am Ende, trotzdem man das gesetzmäßige
Walten irgendwelch dunkler Mächte fühlt, die von dieser Seele Besitz
nehmen. Aber alle Vernunft und alle Psychologie reicht nicht aus, sie
zu erkennen oder bis zu ihrem Ursprung zu verfolgen. Das gibt dann
für all diese Geschichten jene erwähnte skeptische, melancholische,
mystische Grundstimmung und schließt sie zu einheitlicher Harmonie.
Höchstens die erste, überaus amüsante Novelle vom „Schicksal des
Freiherrn von Leisenbogh“ fällt ein wenig aus dieser Grundstimmung.
Es ist eine heitere und spaßige Geschichte, aber es liegt die tiefste
Tragik eines Menschenlebens darin. Für unser Fühlen ist es nämlich
immer noch Konvention, belustigt zu sein, sobald Einer — wie hier der
Freiherr — bei einem Weibe, das er liebt, immer und immer wieder
zu spät kommt. Nach zehn Jahren dann, da er fast aufgehört hat, zu
hoffen, fällt ihm eines Abends die Geliebte zu, wie eine reife Frucht.
Er träumt am Morgen von neuem Leben, einem herrlichen zweiten
Frühling — während sie mit einem Tenoristen bereits im Expreßzug
sitzt. Die eine Nacht hatte sie ihm geschenkt, weil ihr früherer Geliebter
am Sterbebette seinem Nachfolger den Tod gewünscht hatte. Das
durfte der Ritter vom hohen C also nicht sein. Es mußte ein Zwischen¬
mann gefunden werden. Der Freiherr. Und wie dieser all das erfährt,
fällt er todt vom Sessel. Der Fluch hat sich erfüllt. Wie gesagt, diese
Geschichte harmonirt nicht ganz mit den anderen; sie ist nur die wirk¬
samste. Die feinste und tiefste ist die von jener Volkssängerin, die
erblindet ist und die eines Abends, da sie irgend ein neues sentimen¬
tales Lied singt, hört, daß ihr früherer Geliebter auch unten vor dem
Podium beim Bier sitzt. Als sie geendet, steigt sie unbemerkt die Hof¬
treppe hinauf und stürzt sich auf die Straße. Es ist nicht zu sagen,
warum sie das thut. Und doch versteht es jeder der sehr primitiven
Vorstadtmenschen, die nun rathlos um sie herumstehen: sie konnte
nicht anders. Worte reichen nicht bis in jene Dämmertiefen. Hier
zeigt sich wieder jene wunderbare Fähigkeit Schnitzler's, mit
ein paar Andeutungen Seelenstimmungen, Gefühlszustände von
erschütternder Kraft aufleben zu lassen. Ueberhaupt welche
Kunst der Darstellung liegt in dieser kleinen Geschichte! Er verzichtet
so sehr auf jede brutale Schilderung der „packenden“, „unmittelbaren“.
Realität, daß er das Ganze ins Vergangene transponirt. Es ist
gestern geschehen. Man erfährt Alles auf einem Spaziergange aus
der verworrenen Rede eines kleinen Bänkelkomponisten, der immer
nur betheuert, daß wirklich nicht sein „neues Lied“ die Schuld trug.
Dann sind zwei andere Geschichten da, die noch tiefer in seelische
Abgründe hinabreichen, bis ganz an die Grenze des Okkulten und
Visionären: die „Weissagung“ und die „Fremde“. Wo immer man
das Buch aufschlägt, ist es voll solch nachdenklicher Lebensräthsel,
allerlei leiser Tragik, lächelnden Verstehens, müder Grazie und melan¬
cholischer Ironie — kurz es ist ein neues Buch Arthur Schnitzler's. G.