V, Textsammlungen 3, Dämmerseelen. Novellen, Seite 54

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3. Datrseelen
* Ein Wiener Buchhändler über =die Bücher des Jahres¬.
— Die Redaktion des Fremdenblatts (Wien) hat einen Wiener
Buchhändler, den unsern Lesern aus seinen =Wiener Briefen¬
auch als Mitarbeiter des Börsenblatts bekannten Herrn Fried¬
rich Schiller (in Firma Moritz Perles), um eine Außerung über
die Bücher des Jahres= ersucht. Dieser Aufforderung ist Herr
Schiller mit nachfolgender Außerung gefolgt, die im Fremdenblatt
vom 8. Dezember 1907 veröffentlicht ist:
So mächtig der deutsche Bücherwald rauschte, weit und breit
war im Jahre 1907 kein =Jörn Uhl=, kein =Jena und Sedan¬
zu erblicken, kein sensationeller Schlager, doch eine nicht geringe
Zahl gangbarer und verkäuflicher Bücher. Leselustig, lesehungrig
ist vor allem die Damenwelt, und die Pausen zwischen Tennis¬
und Ruderpartie wurden am Wörther= und am Zellersee von den
dort froh vereinten Wienerinnen, Pragerinnen und Gro߬
Kanizsaerinnen ausgefüllt mit Berliner Romanen. =Nachbarin,
Euer Jettchen Gebert=, rief Gretchen (nicht jenes im Bürger¬
theater), und Aranta oder Bozena antwortete: Recht gern, doch
müssen Sie mir Ihren Band von der Viebig mit dem unverständ¬
lichen Titel leihen (Absolvo te). — Im Spätsommer erreichte ein Buch
binnen wenigen Monaten eine fünfstellige Auflagenziffer, selbst¬
verständlich wiederum Berliner Erzeugnis, einer Sammlung be¬
währter Anekdoten und Scherze, Witzblättern entnommen und
geschickt gruppiert. Moszkowski war der Herausgeber, der Titel
klang sonderbar genug: =Die unsterbliche Kiste.. An wie viel
Stammtischen hat sie seither ihre zwerchfellerschütternde Wirkung
erprobt! Wir vermissen noch immer den langersehnten großen
Wiener Roman. Unsre Schriftsteller sollten längeren Anfenthalt
auf dem Kahlenberg nehmen; sie bieten meist nur kleine Ausschnitte
aus dem Wiener Leben. Nach Pötzl, Chiavacci, Stüber¬
Günther greifen viele Hände. In Conte Scapinellis Roman
Phäaken= sind die Wiener nicht gut davongekommen; sonst
heißt es wohl =wer beschimpft wird, wird gekauft=; aber diesmal
versagte ein angeblich sicheres Mittel zum Erfolg — der starke
Tadel in öffentlicher Sitzung. Wer jemals einen Jour gehabt
oder besucht, liebt Auernheimer und kauft seinen neuen No¬
vellenband: =Die ängstliche Dodo=, die die Erbschaft der treulosen
aber munteren Renée angetreten hat; Schnitzler hat eine treue
Gemeinde, seine =Dämmerseelen= werden manche Träne fließen
lassen, manche einsame Stunde verschönen; in seiner Schätzung
begegnen sich die Astheten mit den Nur=Laien. Hoffmannsthal
muß sich mit dem Beifall der ersteren begnügen, er tritt diesmal
mit einem Prachtwerk: =Der weiße Fächer= auf. — Wohl zu
keiner Zeit wurden so viele Werke über Kunst und Kunstwissen¬
schaft gedruckt und — verkauft wie jetzt seit einigen Jahren. An
diesem starken Interesse für moderne und klassische Kunst hat ja
ihr temperamentvoller Rufer im Streite, Hevesi, ein großes
Verdienst. Den bekannten Künstlermonographien von Knackfuß
gesellen sich zahlreiche ähnliche Publikationen (=Klassiker der Kunst=,
=Berühmte Kunststätten= 2c.) zu, denen die vorgeschrittene Ver¬
vielfältigungstechnik niedrige Preise gestattet, die man noch vor
einer Reihe von Jahren für unmöglich gehalten hätte. Dieselbe
Billigkeit zeichnet auch die neuen Gesamtausgaben moderner und
modernster Dichter aus. Gerhart Hauptmann, Ibsen, Scheffel,
Rosegger, Spielhagen, sie werden gewiß in vielen Fällen, wo die
Schul= und Hausklassiker bereits vertreten sind, den Bücherschatz ver¬
mehren. Eine typische Erscheinung des modernen Büchermarktes
sind die Kollektionen, Sammlungen von Werken in gleichmäßiger
Ausstattung zu einem Einheitspreis, der in den meisten Fällen
ungemein mäßig angesetzt ist, da die Kalkulation sehr bedeutende
Auflagen (zehn= bis zwanzigtausend pro Band) zur Basis hat.
Es gibt nun schon so viele Kollektionen, daß die Verleger auf
recht eigentümliche Titel verfallen, z. B. =Bücher der Rose=;
sie sind aber nicht für Rosenzüchter bestimmt; der erste Band
heißt =Die Ernte= und enthält eine Anthologie deutscher Gedichte,
der zweite=Alles um Liebee, worunter sich die Briefe Goethes aus
der ersten Hälfte seines Lebens verbergen, sodann =Vomtätigen Leben=,
worunter abermals Gedichte Goethes, und zwar aus der zweiten
Lebenshälfte zu verstehen sind. Unter dem =Heiligen Krieg= muß man
sich Hebbels Tagebücher und Briefe vorstellen 2c. Etwas kompliziert!
Aber die Sammlung selbst verdient und findet die beste Auf¬
nahme. Der Benjamin unter den Kollektionen nennt sich Liliput¬
bibliothek, zierliche, geschmackoolle Lederbände, die man bequem
in der Westentasche mitnehmen kann. =Faust=,Hermann und
Dorothea=,Das Buch der Lieder=,=Tell= und manches andere
klassische Kleinod sind nun in dieser Diminutivausgabe erschienen;
den klaren, lesbaren Druck muß man anerkennen. — In Bilder¬
büchern und Jugendschriften wendet sich der Geschmack nun immer
mehr der mödernen Produktion zu, seitdem kluge Verleger Künstler
ersten Ranges, wie Thoma, Schmidhammer, Urban, Leffler u. a.,
zu den Kleinen kommen lassen.