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Panphlets, offprints
Meine Herren! Ein Studentenkongreß ohne Fechtkünste, ein Medizinerkongreß
ohne Propaganda für ein neues Heilmittel: die ältesten Laien schütteln ungläubig ihre
Häupter. Und dennoch handelt es sich bloß um ein Heilmittel auf diesem Kongresse,
um ein Heilmittel für den schwer gelähmten ärztlichen Stand. Endlich befolgen künftige
Arzte ernsthaft das ihnen so oft im Spotte zugerufere Medice, Medice curate ipsume.
Endlich richten sie ihren Blick auf die Genesug ihres Standes, suchen nach
Heilmitteln für ihre Berufskrankheit. Berufskrankheit? Die Krankheit ist eben
nicht nur unser Beruf, sondern der Beruf auch unsere Krankheit. Doch
weiß man da draußen von unserem Leiden, weiß man überhaupt die Stellung des
Arztes zu würdigen? Wer kann uns dies besser lehren als das Bild des Arztes
im Spiegel der Literatur? Ach, wohl ist der Arzt eine dankbare Romanfigur, er ist
ein interessanter Dramenheld geworden, aber die wirklichen Leiden der Arzte haben
wenige Barden gefunden. Und wie oft scheint die Stellung des Arztes im Hohl¬
spiegel der modernen Literatur verzerrt!
Die traurigste Rolle, die ein Arzt in der Literatur wie überhaupt spielen kann,
ist dann, wenn er komisch wirkt. Die Arzte können heutzutage von ihrem Berufe
nicht mehr leben, dafür leben Witzblätter und Lustspiele auf Kosten der Arzte.
Daß es Karikaturen von Arzten gibt, wollen wir nicht leugnen, aber der Arzte¬
stand darf nicht selber zur Karikatur gemacht werden. Die Herren Witzbolde lassen
es aber nicht nur an Achtung vor dem Arztestande, sondern auch an Pietät gegen
einen großen Dichter fehlen. Es ist dies Molière, in dessen Werken nun schon
alle üblichen Witze über den Arztestand ein kanonisches Alter erreicht haben.
Was hat nun die Medizin seit Molière Großes entdeckt und Neues errungen! Da
dürfen wir doch wenigstens auch einmal um neuere Witze bitten.
Unter den Franzosen, die nicht nur unser Vorbild im Lustspiele, sondern
auch im Romane gewesen sind, hat Balzac drei Typen von Arzten aufgestellt.
Nr. r. Der Medicus urbanus: Weltmensch, Skeptiker und Diplomat. Nr. 2. Der Doc¬
tissimus, weiß alles, lebt nur für die Wissenschaft. Nr. 3. Der Rusticus, zugleich
ärztlicher Praktiker, Mensch und Philosoph, die sympathischeste Gestalt von den
dreien. Die Arzte der meisten anderen Franzosen sind bloße Abziehbilder dieser
Typen und die meisten Romanärzte könnten ebensogut Rechtskonsulenten, Sekretäre
und andere Vertraute sein.
Zu den wenigen Ausnahmen gehört natürlich Zola. Während der 2Zusammen¬
bruchs interessante Kapitel aus der Kriegschirurgie enthält, schildert er in -Lourdese
die schwierige Stellung des Arztes zur Geistlichkeit und zum Wunderglauben. Sein
RomanFruchtbarkeits wird von unseren Gegnern gegen die Arzte, die diplomierten
Messerheiden, ausgespielt. Gegen eine übermäßige Operationswut haben sich aber
die meisten Arzte selbst gewendet, und es gilt da eben der Satz Kußmauls: -Die
Heilkunde teilt mit anderen edlen Künsten das Los, daß jedem Fortschritte eine
Ubertreibung folgt.: So hat Zola selbst seinem messertüchtigen Chirurgen einen
anderen tüchtigen Arzt entgegengestellt. Dankbar müssen wir aber Zola für das
Licht sein, das er in eines der dunkelsten Kapitel der leidenden Menschheit, in
den Wirkungskreis der Hebammen trägt, ein Kapitel, das eine offene Wunde des
ärztlichen Standes aufdeckt.
800
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Meine Herren! Ein Studentenkongreß ohne Fechtkünste, ein Medizinerkongreß
ohne Propaganda für ein neues Heilmittel: die ältesten Laien schütteln ungläubig ihre
Häupter. Und dennoch handelt es sich bloß um ein Heilmittel auf diesem Kongresse,
um ein Heilmittel für den schwer gelähmten ärztlichen Stand. Endlich befolgen künftige
Arzte ernsthaft das ihnen so oft im Spotte zugerufere Medice, Medice curate ipsume.
Endlich richten sie ihren Blick auf die Genesug ihres Standes, suchen nach
Heilmitteln für ihre Berufskrankheit. Berufskrankheit? Die Krankheit ist eben
nicht nur unser Beruf, sondern der Beruf auch unsere Krankheit. Doch
weiß man da draußen von unserem Leiden, weiß man überhaupt die Stellung des
Arztes zu würdigen? Wer kann uns dies besser lehren als das Bild des Arztes
im Spiegel der Literatur? Ach, wohl ist der Arzt eine dankbare Romanfigur, er ist
ein interessanter Dramenheld geworden, aber die wirklichen Leiden der Arzte haben
wenige Barden gefunden. Und wie oft scheint die Stellung des Arztes im Hohl¬
spiegel der modernen Literatur verzerrt!
Die traurigste Rolle, die ein Arzt in der Literatur wie überhaupt spielen kann,
ist dann, wenn er komisch wirkt. Die Arzte können heutzutage von ihrem Berufe
nicht mehr leben, dafür leben Witzblätter und Lustspiele auf Kosten der Arzte.
Daß es Karikaturen von Arzten gibt, wollen wir nicht leugnen, aber der Arzte¬
stand darf nicht selber zur Karikatur gemacht werden. Die Herren Witzbolde lassen
es aber nicht nur an Achtung vor dem Arztestande, sondern auch an Pietät gegen
einen großen Dichter fehlen. Es ist dies Molière, in dessen Werken nun schon
alle üblichen Witze über den Arztestand ein kanonisches Alter erreicht haben.
Was hat nun die Medizin seit Molière Großes entdeckt und Neues errungen! Da
dürfen wir doch wenigstens auch einmal um neuere Witze bitten.
Unter den Franzosen, die nicht nur unser Vorbild im Lustspiele, sondern
auch im Romane gewesen sind, hat Balzac drei Typen von Arzten aufgestellt.
Nr. r. Der Medicus urbanus: Weltmensch, Skeptiker und Diplomat. Nr. 2. Der Doc¬
tissimus, weiß alles, lebt nur für die Wissenschaft. Nr. 3. Der Rusticus, zugleich
ärztlicher Praktiker, Mensch und Philosoph, die sympathischeste Gestalt von den
dreien. Die Arzte der meisten anderen Franzosen sind bloße Abziehbilder dieser
Typen und die meisten Romanärzte könnten ebensogut Rechtskonsulenten, Sekretäre
und andere Vertraute sein.
Zu den wenigen Ausnahmen gehört natürlich Zola. Während der 2Zusammen¬
bruchs interessante Kapitel aus der Kriegschirurgie enthält, schildert er in -Lourdese
die schwierige Stellung des Arztes zur Geistlichkeit und zum Wunderglauben. Sein
RomanFruchtbarkeits wird von unseren Gegnern gegen die Arzte, die diplomierten
Messerheiden, ausgespielt. Gegen eine übermäßige Operationswut haben sich aber
die meisten Arzte selbst gewendet, und es gilt da eben der Satz Kußmauls: -Die
Heilkunde teilt mit anderen edlen Künsten das Los, daß jedem Fortschritte eine
Ubertreibung folgt.: So hat Zola selbst seinem messertüchtigen Chirurgen einen
anderen tüchtigen Arzt entgegengestellt. Dankbar müssen wir aber Zola für das
Licht sein, das er in eines der dunkelsten Kapitel der leidenden Menschheit, in
den Wirkungskreis der Hebammen trägt, ein Kapitel, das eine offene Wunde des
ärztlichen Standes aufdeckt.
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