VI, Allgemeine Besprechungen 1, 1-13, Bruno Fellner, Seite 4

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Pamphlets offprints box 36/1
In -Doktor Pascale schildert Zola das geheimnisvolle Treiben eines Arztes,
der die Mitte zwischen den Alchymisten des Mittelalters und den Serologen der
Neuzeit hält. Hier in -Doktor Pascalz, wie in vielen Werken der Neu-Franzosen, ist —
wie im Lande Pasteurs natürlich — der Einfluß der Bakteriologie unverkennbar. In
der Folge ist die Literatur mit sämtlichen entdeckten und unentdeckten Bazillen
infiziert worden. In einem Romane von Laforest macht ein Arzt Impfversuche mit
einem gefährlichen Virus an seinem Bruder, in einem anderen Romane der Mann
an der eigenen Gattin. Die Schriftsteller ahnen nicht, welches Gift sie mit diesen
modernen Romanartikeln ins Publikum tragen. Leider hat derselbe in neuester Zeit
auch bei den deutschen Romanschriftstellern Absatz gefunden. Wirkliche Helden,
wie Hermann Müller, haben aber keinen Sänger gefunden.
Im übrigen sind die Deutschen mit ihrer bekannten Gründlichkeit tiefer in
das Reich des Arztes eingedrungen. So verherrlicht Wilbrandt in einem Romane
das segensreiche Wirken eines bekannten deutschen Orthopäden, und während sich
Perfall auch in die Hexenküche der Serologen locken läßt, schildert Stratz in der
Ewigen Burgs einen Landarzt, der seinem Vorbilde Meister Koch folgend, als
tüchtiger Praktiker auf dem Lande wirkend, im neuesten Strombette der Wissen¬
schaft weiterforscht. Auch Voß preist das Wirken des Landarztes, eines nie genug
gewürdigten Wohltäters der Menschheit. Die Deutschen sind nun auch verschiedenen
ärztlichen Konflikten und der ganzen Stellung des Arztes näher getreten.
Wie oft liegt bei dem Arzte die Entscheidung über Leben und Tod! Das
ist die größte Macht seiner Stellung, seine größte und oft seine traurigste. Diese
traurige Macht, die durch den Zwiespalt zwischen Mensch und Arzt oft zu einem
wahrhaft tragischen Konflikte wird, hat schon viele Dichter gefunden. In ihrem
Roman Menschlichkeite behandelt Marriot die Frage, ob der menschliche Arzt
unheilbaren Kranken zu einem schnelleren und leichteren Tode verhelfen darf,
oder ob er mit seiner ganzen Kunst die letzte qualvolle Etappe der Auflösung ver¬
längern muß. Marriot läßt ihren Helden an seiner Menschlichkeit zugrunde gehen.
Theodor Storm hat in seiner Novelie-Das Bekenntnise diese Frage noch leben¬
diger gestaltet. Da ist es nicht nur der Arzt und Mensch, da ist es zugleich auch
der Gatte, der die schrecklichste Prüfung eines Arztes mitmacht, hilflos vor dem
entsetzlichen Leiden eines geliebten Wesens zu stehen. Glücklicher Laie, der an
dem Bette der Geliebten noch hoffen kann!
Wie singt da Goethe:
Wofür ich Allah höchlichst danke,
Daß er Leiden und Wissen getrennt.
Verzweifeln müßte jeder Kranke,
Das Ubel kennend, wie der Arzt cs kennt.:
Und so leidet der Arzt Storms unsäglich von dem Momente seiner Diagnose an.
Er sicht den qualvollen Verlauf, das entsetzliche Ende seiner Gattin voraus, und als
ihn die unermeßlich Leidende um den erlösenden Tod bittet, da kann der Mensch nicht
widerstehen, der Arzt wird zum Mörder. Ja, Mörder! Das erkennt er aber erst, als er
zu spät von einem Heilmittel erfährt, welches die rastlos fortschreitende Wissenschaft
entdeckte. Ach, wie mancher Arzt mag in ähnlichen Lagen mit Billroth schmerz¬
voll gewünscht haben: -Wär’ ich doch um ein Jahrhundert später als Arzt
geboren!e
Fürwahr, der Arzt hat in seinem Berufe einen steten inneren Kampf zu führen.
Da braucht es nicht erst der äußeren Angriffe, die auch ein Großer, Tolstoi, gegen
uns schleudert.
Wenn er gegen mangelhaft entwickelte Zweige der Medizin sein gewaltiges
Wort ertönen läßt, können wir am besten durch Arbeit auf diesem Gebiete ant¬
worten; Angriffe gegen die höchst entwickelten, wie beispielsweise die Geburtshilfe,
müssen wir entschieden zurückweisen. Wenn dem Dichter der =Kreutzersonater die
Arzte ganz einfach nicht in sein System passen, sagen wir uns zum Troste: Die