VI, Allgemeine Besprechungen 1, 1-13, Bruno Fellner, Seite 6

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praktischen Arzt und einen dünkelhaften, vielwissenden Forscher, dem aber die erste
Wissenschaft des Arztes, die Herzensbildung, fehlt. Eine kleine Szene berührt da
auch eine der wundesten Stellen in der ärztlichen Standesordnung, die peinliche
Lage, in der sich ein Arzt befindet, wenn er zu dem Patienten eines Kollegen
gerufen wird. Die rechte Mitte zwischen Humanität und Kollegialität zu finden,
ist oft sehr schwierig.
In dem für uns Mediziner so interessanten Spitalsstücke =Die letzten Masken¬
führt uns Schnitzler das Muster eines guten Spitalsarztes vor, der den Seelenleiden
seiner armen Kranken wie ihren körperlichen teilnahmsvoll gegenüberstcht.
Schönherr bietet uns in seinem Stücke -Die Bildschnitzers auch einen Gegen¬
satz, einerseits den älteren Landarzt, der Herz und Kopf am rechten Fleck hat,
und dann einen Studenten der Medizin, der, noch voll von schlecht verdauter Schul¬
weisheit, den Kranken über die Krankheit vergißt und mit wahrer Wollust die
Symptome einer überstandenen Pleuritis konstatiert. Die Entschuldigung aber,
die dieser Mediziner für sich ins Feld führt, nämlich die mangelhafte praktische
Ausbildung der Mediziner, das ist eine Mahnung, die nicht oft genug von Bühne
und Katheder aus an die maßgebenden Faktoren gerichtet werden kann.
Wenn ich mich früher gegen den Naturfanatiker Tolstoi wenden mußte,
freut es mich doppelt, dem Wahrheitsapostel lbsen gebührenden Dank zollen zu
können. In seinem -Volksfeinde hat er einen Arzt zum Helden erkoren, und auf
diesen Kollegen können die Arzte stolz sein. Wie weit entfernt ist dieser Bade¬
arzt von den Badeärzten, welche die Table d’hote des deutschen Lustspieles
dekorieren. Doktor Stockmann verliert seine soziale Stellung, die Liebe seiner Mit¬
bürger, seine Praxis, alles, weil er als ein wirklicher Arzt, als geborener Märtyrer
an einer von seiner Wissenschaft festgestellten Tatsache nicht deuteln, noch rütteln
läßt. Er setzt sein persönliches Wohl und das einzelner Mitbürger zurück, sobald
es das Wohl der Allgemeinheit gilt. Für die Stellung des Arztes ergibt sich aber
aus dem „Volksfeinds die Forderung, daß der Arzt unabhängig von allen Parteien,
von den Launen der einzelnen und dem Terrorismus der sogenannten öffentlichen
Meinung sein muß.
Den Doktor Stockmann schilt die törichte Menge einen Volksfeind. Diesen
Namen verdienen aber jene, welche unter der Maske der Volksaufklärung im
Laienpublikum das Vertrauen zu den Arzten erschüttern. Die Werke dieser Volks¬
feinde sind zu einer ganzen Bibliothek angeschwollen. Leider haben sich auch
Arzte auf diesen Irrweg begeben, und nichts hat der Stellung des Arztes mehr
geschadet, als diese Ketzerbücher. Ich will nur ein Buch als Beispiel hervorheben,
es sind dies die Bekenntnisse eines Arztese von Weressajew, ein Buch, welches
unter Arzten und Laien viel Staub aufgewirbelt hat. Mit diesem Staub sind
giftige Keime in das Haus der Leser eingedrungen, und mancher Arzt hat schon
jetzt auf dem Boden seines Wissens eine ganz nette Kultur der Bazillen der Ver¬
leumdung und des Mißtrauens gegen seinen Stand entdeckt. Wenn aber Weressajew
glaubt, die Krankengeschichten seiner Patienten zu schreiben oder gar die
Geschichte der von den Arzten betrogenen Menschheit, irrt er. Ein vernünftiger
Leser findet bloß eine Krankengeschichte in dem Buche: das ist die des Verfassers,
eines schweren Neurasthenikers.
In dem einen Teile beschäftigt sich Weressajew ausführlich mit all den sehr
zahlreichen Fehlern, die er in seiner Praxis begangen. Wollen wir nun uns ein
Urteil über den Arzt Weressajew bilden, brauchen wir nur eine seiner Kranken¬
geschichten zu zitieren. Weressajew behandelt einen Kranken, der an Typhus,
kompliziert mit einer Entzündung der Ohrspeicheldrüse, leidet. Eines Tages findet
er den Patienten im Zustande größter Atemnot. Patient kann kaum den Mund
öffnen. Weressajew läuft natürlich schnell nach Hause, um bei seinem Orakel¬
buche, dem -Strümpell, nachzufragen. Dort findet er angeblich als einzige Kompli¬
kation, die bei Typhus Atemnot erzeugen kann, Glottisödem. Gegen dasselbe
schreibt ihm sein Notizbuch ein energisches Abführmittel vor, und so behandelt