VI, Allgemeine Besprechungen 1, 1-14, Lamprecht Deutsche Geschichte Ergänzungsband, Seite 38

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anphlets offprints
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Dichtung.
noch außerdem von dem Augenblick an, da die physiologisch¬
impressionistische Kunst bis zu einer solchen Kraft der Illusions¬
fähigkeit gesteigert war, daß man ihr das Vermögen zutrauen
konnte, selbst das Märchen= und Traumhafteste auf der Bühne
wahrscheinlich zu machen. Mit dem Traum= und Märchen¬
drama aber verbanden sich alsbald, bald laut, bald leise, sym¬
bolistische Elemente. Das Märchen und der künstlerische
Traum, die seherische Dichtung, sind Formen urzeitlicher
Phantasiethätigkeit: in frühen Zeiten treten sie instinktiv und
spielerisch auf, ohne tiefen Inhalt oder wenigstens so, daß ihre
Träger sich dieses Inhalts, wenn er da ist, nicht voll bewußt
werden. Gewiß wird nun namentlich das Märchen auch heute
noch so fortgebildet, aus bloßer Lust am Fabulieren; aber es
bildet als solches nicht eine entwicklungsgeschichtlich bedeutungs¬
volle Form unserer Dichtung. Wo Traum und Märchen sich heute
der hohen Poesie nähern, da geschieht das vielmehr nicht trieb¬
mäßig, sondern bewußt, und darum steht hinter diesen Formen
jetzt stets ein höherer Gehalt: und die äußeren Vorgänge
erscheinen symbolisch. Wir sehen in solchem Falle das bunte
Spiel der Vorgänge, bei dem wir uns nicht beruhigen, gleich¬
sam als einen Vorhang an, den es zurückzuschlagen gilt, um
hinter ihm das eigentliche Ereignis zu erblicken.
Symbolismus in diesem Sinne ist also von dem modernen
Märchendrama unzertrennlich, es sei denn, daß dieses musikalisch
abgewandelt wird in der Art, daß es durch die Musik zunächst
nur, der urzeitlichen Wirkung gleich, auf die Nerven und von
diesen erst auf die Empfindungen und Gefühle gehen will.
Darum haben schon die Romantiker das Märchen symbolisiert.
Und ein Gleiches wie vom Märchen gilt von der Heldensage,
insofern sie im modernen Drama aufleben soll. Bereits in Hebbels
„Nibelungen“ beruhen die Abweichungen von der Gestaltung
der Sage im alten Epos vornehmlich auf der Einführung sym¬
bolischer Züge; und die Personen sind fast nur noch Träger
von Ideen. Ahnlich steht es bekanntlich auch schon mit den
in diesem Zusammenhang in Betracht kommenden Musik¬
dramen Wagners. Und schreitet der Dichter heute zur Ein¬
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Lamprecht, Deutsche Geschichte. Erster Ergänzungsband.
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