VI, Allgemeine Besprechungen 1, 1-14, Lamprecht Deutsche Geschichte Ergänzungsband, Seite 43

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1. Panphlets offprints
Dichtung.
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und die Welt des germanischen Mythos, dessen Götter im Be¬
wußtsein ihrer Vergänglichkeit doch voll frohen Heldentums
dahinleben, Vorbilder eines menschlichen Heroismus, der nach
allem greift, selbst nach den Sternen.
In die Welt der Menschen hineingeboren ist der Künstler,
der Glockengießer Heinrich. Und trotz eines unbewußt in ihm
waltenden Strebens nach Vollgewalt im Bereich und mit den
Mitteln des ganzen großen belebten Alls sieht er sich in dieser
Welt, die zugleich die Welt des Christentums ist, festgehalten
durch sein Weib, das ihn nicht versteht, durch seine Kinder,
durch die Gemeinde, für die er ohne innere Befriedigung die
Glocke eines hoch am Bergesabhang gelegenen Kirchleins schafft.
Da stürzen die Wesen der zweiten Welt, der Welt der Natur¬
gewalten, die Glocke während des Transportes zur Höhe ins
Thal, hinab in die dunklen Fluten eines Bergsees: sie ver¬
eiteln die Entheiligung ihrer Regionen durch die Kirche. Dem
Künstler aber bedeutet diese Katastrophe schließlich nach herbem
Schmerz einen glückbringenden Umschwung: selbst mit in den
Sturz — „war's willig? widerwillig?“ — verwickelt, gelangt
er durch die alte Wittichen und Rautendelein in Verkehr mit
jener anderen, den Menschen und dem Christengott abgewandten
Welt, mit der Welt eines pantheistischen Glaubens. Und selbst
im tiefsten Herzen Pantheist, sucht er sie alsbald schöpferisch
zu bewältigen. Er zieht hinauf in die Berge; er will ein
Glockenspiel von unerhörter Gewalt schaffen das, in einem
Sonnentempel aufgehängt, die Harmonie der Sphären tönen soll:
mit wetternder Posannen Laut
Mach' es verstummen aller Kirchen Glocken
Und künde, sich im Jauchzen überschlagend,
Die Neugeburt des Lichtes in der Welt, —:
und er zwingt zur Durchführung dieses Planes die Natur¬
gewalten mit der Vermessenheit menschlicher Ungeduld in
seine Dienste.
Und nun erlebt er, daß er doch selbst nur Teil ist dieser
großen Welt des Alls, nicht ihr Bezwinger und Beherrscher.
Die Naturgewalten empören sich, die Menschen stürmen gegen
——
Dichtung.
ihn an — er besiegt sie anscheinend: da 1
Harmonien, die Grundtöne christlich¬
auffassung: er erfährt, daß sein Weib da
menschlichen Strebens geworden ist; sein
vor ihm mit dem bauchigen Krüglein, in
der Mutter gesammelt; von dem Schemen
in den Bergsee gestürzt hatte, berührt,
Glocke in immer stärkeren Pulsen hinauf
Da wird er schwach: er verläßt den Ort
samkeit, verläßt Rautendelein, bricht mis
gewalten. Aber die Schwäche rächt sich a
Innersten untreu geworden, und so ble
als der Tod, der ihn mitleidig aufsucht.
Man sieht: auch hier ist das Schen
impressionistischen Dramas der früheren Z
nicht oder wenigstens noch nicht völlig
zu einem Aufgehen und Scheitern in sch
Pantheismus liegt bei Heinrich vor; aus
seine Bekanntschaft mit der zweiten W
Welt sich weniger in die seine eindrängt
sucht. Dadurch wird der Held des Dra
nicht nur, er verteidigt sich nicht bloß,
Kraft vorwärts weisenden Wollens. So k
in das Stück; es ist nicht nur in der An
Stücke Katastrophe; dem Schicksal tritt ni
gegebenen Milien unverträglicher, sondern
Welt geschaffener und dieser zustrebender 2
so zermalmt es zwar, wie früher, aber
wechselvollem Widerstand. Und in diesen
sich nicht mehr um die bloße halb phy
Daseins, sondern um die höchsten Prol
Gewiß ist Heinrich ein Zeittypus; er ist
der Nietzschesche Übermensch und er verkör
Schaffensideal, das wenige Jahre vor dem
sunkenen Glocke“ in Langbehns Buche
zieher“ als das höchste menschliche Ideal
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